September 1993. Rykerts, British Columbia, eine Grenzstation zwischen
Kanada und den USA. Fünf Uhr morgens. Ich sitze oben auf
einer Klippe. 200 Meter unter mir liegt der Kooteney. Tagsüber dient
dieser gewaltige Fluss der Rocky Mountains als Landepiste für kleinere
Flugzeuge, deren Piloten hier das Einverständnis der amerikanischen
bzw. der kanadischen Behörden für den Weiterflug einholen
wollen. Um diese Uhrzeit fliegen jedoch noch keine Flugzeuge.
Nichts scheint sich zu bewegen. Es ist absolut still. Die Berge unseres
Tals schimmern in der Morgendämmerung. Wenn man aufmerksam
ist, kann man einen Uhu im Vorbeiflug bewundern. Vielleicht ist
Franz, ein Schwarzbär, der immer wieder die Wälder unserer Ranch
nach Brombeeren oder Honig durchforstet, gerade in der Nähe. An
diesem Tag habe ich allerdings gar kein Auge dafür.

 

In meinem Inneren herrscht heute alles andere als Stille. Um ehrlich
zu sein, entdeckt mich dort die aufgehende Sonne nicht zum ersten
Mal. Seit Wochen spielt sich immer das Gleiche ab. Um 4.30 Uhr stehe
ich auf und rüste mich mit meinem Gewehr, sodass ich notfalls
neugierige Fragen mit einem „Ich gehe auf die Jagd“ abwimmeln
kann. Ein Apfel oder irgendetwas anderes Essbares kommt auch mit
in die Tasche. Und so mache ich mich auf den Weg von unserem
Haus – besser gesagt unserer Hütte – den Berg hinunter zur Klippe.
Dort verbringe ich dann die nächsten Stunden. Ich will weg, ich will
allein sein, einfach nachdenken und versuchen zu beten oder – besser
– zum Himmel zu schreien. In meinem Inneren tobt schon den
ganzen Sommer ein heftiges Gewitter. In den letzten Wochen hat
es so an Kraft zugenommen, dass ich es fast nicht mehr aushalten
kann. Ich brauche eine Antwort. In mir bohren Fragen, die mir keine
Ruhe mehr lassen: Was soll ich tun? Welchen Weg soll ich gehen?
Wo soll ich hin? Was will Gott von mir? Was war mit den letzten vier
Jahren passiert, in denen ich nichts von der Kirche, wie sie jetzt war,
und von diesem Papst wissen wollte? Was geschah mit all meinen
Plänen für meine Zukunft, die ich mir so schön zurechtgelegt hatte?
Was lässt alle diese Fragen in mir aufkommen: ein Hirngespinst oder
doch Gottes Stimme?

 

Der Spätsommer 1993 war eine der schwierigsten Zeiten in meinem
Leben. Und doch hatte ich noch nie so tief und so ehrlich gebetet.
Ja, mit Gott habe ich gekämpft und gerungen. Aber trotz
aller Schwierigkeiten war es damals bereits der Anfang vom Ende
meiner Suche. Jetzt kann ich danken für diese Zeit, denn ich durfte
viel lernen. Es war ein Prozess des Suchens, aber auch des Findens:
ein erstes Wahrnehmen. Eine Ablehnung. Ein Ringen. Ein Okay. Ein
Nicht-okay-sagen-Wollen. Wieder ein Ringen. Endlich nicht nur ein
Okay, sondern wirklich ein Ja. Dann eine Umarmung von ganzem
Herzen. Aber was für ein Weg, um dorthin zu gelangen! Und doch
würde ich ihn um nichts in der Welt missen wollen.

 

Oft erlebe ich heute junge Menschen, die genau solche Zeiten erleben
wie ich damals oben auf der Klippe und mit ihren Fragen zu
mir kommen: „Wie kann ich wissen, was Gott von mir will?“ „Ist es
wirklich Gottes Stimme?“ „Was soll ich tun?“ „Wie soll ich wissen,
ob ich heiraten oder mein Leben Gott schenken soll?“ „Wie kann
ich darauf antworten?“ Dieses Blogbeiträge schreibe ich für solche jungen
Menschen. Ihnen soll es ein Leitfaden sein und eine konkrete Hilfe
durch diese nicht einfache Zeit bieten. Daher liegt der Schwerpunkt
nicht bei der Frage, ob ich eine Berufung habe, sondern wie ich mit
einer Berufung, sofern ich sie habe, umgehen kann, welchen Schritt
ich als nächsten setzen muss.

 

Das heißt, die folgende Blogbeiträge widme ich dem jungen Menschen,
der daran glaubt, dass Gott einen Plan für sein Leben entworfen hat. Das
heißt nicht, dass jemand anderes diese Beiträge nicht lesen kann oder nicht
lesen sollte. Die Kriterien, die hier gegeben werden, können genauso
gut auf dem Weg zur Ehe wie auch bei anderen großen Entscheidungen
begleiten. Die Berufung zum geistlichen Leben aber schenkt
die besondere Perspektive.

Bei alledem bleiben diese Beiträge nur ein Leitfaden, denn die Wege zur
eigenen Berufung sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Dennoch
kann man in jeder Berufungsgeschichte eine gewisse Grundstruktur
entdecken. Um diese allgemeinen Grundprinzipien und
Leitlinien, die bei der Berufungssuche Orientierung und Klarheit
verschaffen können, geht es hier.

Im Allgemeinen lassen sich in der Berufungsfindung drei große
Schritte herausarbeiten.

Der erste Schritt ist das Wahrnehmen. Wie kann man überhaupt
hören, was Gott spricht? Wie kann man wahrnehmen, worum er
bittet? Hier geht es um Wege des Hinhörens und des Hinschauens.
Danach folgt das Annehmen dessen, was man gehört bzw. wahrgenommen
hat. Eine Sache ist es, etwas wahrzunehmen und zu
wissen, worum Gott einen bittet, und eine ganz andere, genau das
dann auch zu bejahen und zu tun. Hier geht es um das, was vielen
am schwersten fällt.

 

Der dritte große Schritt ist schließlich das Nachfolgen. Wie kann
es jetzt konkret werden? Wie kann man den Weg konkret gehen?
Denn den Ruf Gottes anzunehmen, bedeutet, sehr bald konkrete
Schritte zu setzen.

 

Den thematischen Kern dieser Beiträge bildet genau dieser Dreischritt:
wahrnehmen, annehmen, nachfolgen. (Fortsetzung folgt nächsten Dienstag)

 

George Elsbett LC

Mehr Info zu P. George Elsbett: http://about.me/gelsbett  / Die mit diesem Beitrag beginnende Serie entstammt seinem Buch, „Wohin? Finde deine Berufung!“: http://www.wohinberufung.com/

Beitragsbild, Kurosch Bohranian, Mit Erlaubnis