Was ist wichtiger, Dienst oder Gebet? Und was ist wichtiger in der Praxis, gerade jetzt, für uns als Gemeinde?

Beide zählen zu den fünf Säulen der Jüngerschaft. Gemeinsam mit Gemeinschaft, ganzheitlicher Glaubensbildung und Mission bilden sie zugleich die sogenannten Grundvollzüge der Kirche. Diese Grundvollzüge beschreiben die Aufträge der Kirche, das, was Jesus Christus ihr zu tun anvertraut hat. Diese werden aufgeteilt in Gottesdienst (leiturgia), Gemeinschaft (koinonia), Diakonie (diakonia) und Zeugnis (martyria). Zeugnis heißt, vom Glauben zu sprechen und ihn zu bekennen. Wenn wir im Zentrum vom „Zeugnis“ sprechen, dann unterscheiden wir zwischen Evangelisation (oder Mission oder Teilen des Glaubens oder Zeugnis geben) und ganzheitlicher Glaubensbildung, um zwischen der Erstverkündigung an Menschen, die Jesus noch nicht kennen, und der eigenen Glaubensweiterbildung und Vertiefung zu unterscheiden. Alles, was wir als Kirche (und daher als Zentrum) tun, sollte Menschen helfen, diese 5 Dimensionen oder Grundvollzüge zu vertiefen. Zugleich bedarf es hier einer Balance. Und doch …

Gebet und die Beziehung zu Gott (Gottesdienst sehr breit verstanden) haben Vorrang. Aber sogar Gebet kann eine Ausrede werden, um meinem Nächsten nicht zu dienen: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20) „Das Maß der Gottesliebe ist die Nächstenliebe.“ (hl. Edith Stein) Gebet kann eine Flucht vor meiner Verantwortung sein, oder auch ein Verfall in „spirituelle Weltlichkeit“, um mit Papst Franziskus zu sprechen. Gebet bleibt gesund und echt, wenn es eben von den anderen Grundvollzügen ausgeglichen wird. Dienst ohne Gebet wird zum Aktivismus und man brennt schnell aus: Wir können nicht nur geben, wir müssen auch empfangen, immer wieder zurück zur Quelle kommen, die eben ER ist. Außerdem wird Dienst ohne ein tiefes Gebetsleben schnell zur Last. Dienst wird dann echte christliche Nächstenliebe, wenn er vom Gebet durchdrungen und belebt wird. Wenn der Nächste etwas von der vorbehaltslosen Liebe Gottes spürt. Mein persönliches Gebetsleben kann aber auch zu einer Flucht von der Gemeinschaft werden, sowie dasselbe passieren kann, wenn man sich nur auf die Weiterbildung stürzt und ein Glaubensvertiefungskurs nach dem anderen macht … aber nie dazu kommt, dem Nächsten zu dienen oder den Glauben zu bezeugen. Weiterbildung ohne Gebet und Nächstenliebe macht Stolz und überheblich, führt zur Heuchelei und bringt oft sektiererische Tendenzen mit sich. Und ich kann nicht glaubwürdig den Glauben denen gegenüber bezeugen, die den Herrn noch nicht kennen, wenn ich völlig zerstritten mit jenen bin, die eigentlich meine Brüder und Schwestern im Herrn sein sollten. Ich kann mich aber auch in die Gemeinschaft flüchten, die steril und oberflächlich wird, wenn diese nicht vom Gebet genährt und in Taten der Nächstenliebe fruchtbar wird. Die Kunst für eine Gemeinde, aber auch für den Einzelnen wird sein, diese 5 Dimensionen der Jüngerschaft bzw. Grundvollzüge in einer Balance zu halten.

Einmal im Jahr trifft sich das Leitungsteam des Zentrums Johannes Paul II., um auf das Jahr zurückzuschauen, das folgende Jahr zu planen und größere Themenfelder zu besprechen. Vergangenen Freitag wurde die Klausur abgeschlossen. Dort haben wir uns auch gefragt, was unser Hauptfokus 2023 sein sollte. Es wurde ziemlich heftig diskutiert. Aber alles in einer Atmosphäre des Gebetes und des Ringens, um unterscheiden zu können, wohin der Herr uns zu führen scheint. Eigentlich standen wir kurz davor, den Schwerpunkt auf den Dienst zu legen. Aber wir sind noch mal in die Stille und ins Gebet gegangen. Und es kamen Eindrücke, die uns noch mal alles über Bord werfen ließen. Danach entstand die heftigste Diskussion der gesamten Klausur. Weil wir wussten, dass es hier um viel ging und die Entscheidung ja Weichen stellt, unsere Planungen, Veranstaltungen, Predigtserien, Arbeit an unserer Kultur, eben vieles in diesem Jahr beeinflussen wird, bestimmen wird, was wir tun und was eben nicht. Wir haben uns schließlich zum Entschluss durchgerungen und geeinigt, dass wir den Fokus zuerst auf das Gebet legen sollten – mindestens bis zum Sommer, vielleicht das gesamte Jahr. Natürlich dürfen wir die anderen Grundvollzüge von Kirche / Dimensionen von Jüngerschaft nicht auslassen. Aber wir wollen hier den Fokus aufs Gebet legen. Alles muss aus dem Gebet kommen. Wenn wir für den Herrn brennen, dann wird ein gesundes Fundament für die anderen Bereiche der Jüngerschaft gelegt. Später, am Freitagabend, haben wir dann unsere Überlegung dem Zentrumsrat vorgestellt und wollten noch mal hinhören, ob er das anders sieht. Es war so schön zu sehen, wie das noch mal eine wirkliche Bestätigung für die Entscheidung, den Schwerpunkt auf das Gebet zu legen, war. Wir konnten auch schon einige Schritte weitergehen und überlegen, wie jeder persönlich dazu beitragen kann, dass wir als Gemeinde in der Gebetstiefe wachsen können.

Ich möchte euch bitten, dieses Anliegen des Gebets ins Gebet zu nehmen. Stellt euch vor, was geschehen kann, wenn wir als Gemeinde noch viel tiefer gehen. Wenn das Zentrum ein Ort ist, wo des Geistes Feuer in Menschen entzündet wird und weitere entzündet. Dass Menschen so vom Herrn erfüllt sind, so in ihm ruhen, dass sie seinen Frieden und seine Geborgenheit, seine Liebe in diese Welt ausstrahlen. Wenn man unter uns merkt: Gott ist hier gegenwärtig. Wenn die Grenzen zwischen Himmel und Erde etwas verschwimmen. Wenn der Geist heftig unter uns weht und innere und äußere Heilungen geschehen. Dass unser Gebet so vom Glauben erfüllt ist, dass er wirklich Berge versetzt: die Berge der Unversöhntheit, des Grolls, der Süchte, der Streites, des Krieges, der Einsamkeit, der Selbstzweifel, der Ängste.

Gottes Segen!

P. George Elsbett LC