„Diese Unschuld ist genial, sodass du am liebsten weinen möchtest
Diese Unschuld ist genial, bitte gehe nicht weg
Denn ich brauch dich jetzt
Und ich werde sie festhalten, lass sie nicht vorübergehen.“
Avril Lavigne, Innocence
Unschuld ist nicht das erste Wort, das benutzt wird, wenn wenn man über Beziehung und Liebe redet. Und doch. Für mich ist Unschuld eines der ganz wichtigen Themen, wenn Beziehung gelingen soll. Unschuld hat mit innerer Freiheit, Authentizität und mit reifer Liebe zu tun. Warum und wie das so ist will ich in diesem Beitrag versuchen zu erklären. Es ist der zweite von zwei Beiträgen zum Thema. Hier findet man den ersten.
Unschuld heißt Verantwortung
Schlagen wir für einen Augenblick das erste Buch der jüdischen und christlichen Bibel auf, das Buch Genesis. Der Mensch lebt dort in einem Garten. In diesem Garten befindet sich ein Baum. – Naja, viele, aber dieser Baum war etwas Besonderes. Von allen anderen Bäumen durfte er essen, aber von diesem einem heißt es, davon „darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,16-17). Das Gebot scheint sich zunächst als Freiheitseinschränkung zu offenbaren. Aber bei näherem Hinschauen merkt man: Das Gegenteil ist der Fall. Ihm wird geboten. Interessant! Steinen kann man nicht gebieten! Tieren auch nicht! Unseren Stier auf der Ranch in Kanada hat man nicht vor den Richterstuhl gezogen, wenn er aus seinem Gehege ausbrach und zur falschen Jahreszeit eine Kuh schwängerte und so bei minus 40 Grad Celsius Kälber geboren wurden. Geärgert hat man sich, wütend war man vielleicht sogar, aber vor Gericht kam der Stier trotzdem nicht. Wieso? – Weil man Stieren nicht auf Menschenart gebieten kann. Stiere folgen Instinkten und diese Instinkte kann man versuchen einzudämmen, aber zur Verantwortung wird der Stier nicht gezogen, wenn die Eindämmung nicht klappt. Beim Menschen ist das anders.
In ihrer nicht ganz unumstrittenen Videoinstallation „Confessions/Portraits, 2009“ ließ Gillian Wearing sexuell Missbrauchte durch eine Maske schauen. Die Augen waren real, alles andere nicht. Aber das reichte schon. Verletzte Unschuld. Grenzüberschreitung, die zum Himmel schreit. Kinderschänder kommen vor Gericht. Frauen-Vergewaltiger genauso. Wieso?
Natürlich hat auch der Mensch Instinkte! Und doch, irgendwie fühlt er die Verantwortung, diesen Instinkt mit einem in seinem Verstand erkannten Wertekatalog in Übereinstimmung bringen zu müssen. Er muss dem Instinkt nicht folgen. Er kann es tun, aber er ist nicht dessen Sklave. Weil dem so ist, gibt es Gerichtsverfahren und gibt es überhaupt erst Gesetzte.31 Gerade weil der Mensch nicht muss, wird ihm geboten, gerade weil er frei ist, ist er verantwortlich. Freiheit bringt Verantwortung mit sich. Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Unschuld heißt innere Freiheit
Es gibt im Menschen kein Muss, sondern vielmehr ein inneres Bewusstsein darüber, dass das Ergebnis der Rechenschaft, die er zuallererst sich selbst gegenüber abzulegen hat, von der Antwort abhängt, die er auf seine innere Stimme (Gewissen, sein inneres „Wort“) gibt. Das ist die Bedeutung des deutschen Wortes „Verantwortung“. Das Präfix „ver“, hat im deutschen öfters den Sinn von „gänzlich“ (zum Beispiel verbieten, verlieben, verschenken, verausgaben, verbrechen, vergeben, verspielen…). Hier sehen wir ein „Wort“ (innere Stimme, Gewissen…) dem „geantwortet“ wird, aber nicht irgendwie, sondern eben „gänzlich“. Demnach ist „Ver-ant-wort-ung“ etwas, wobei der Handelnde selbst merkt, dass er gänzlich diesem Wort, das ihm gegeben ist und in ihm ist, zu antworten hat, dass in ihm etwas zerbricht, wenn er das nicht tut und dass er selbst der Verbrecher ist. Deswegen ist Verantwortung nicht im strengen Sinne übertragbar. Ich bin verantwortlich für mein Tun. Ich kann einen anderen nicht für mein Tun zur Rechenschaft ziehen. Interessant dabei ist dies: Das Bewusstsein der eigenen Verantwortung entstammt nicht äußerem Druck, sondern der eigenen Erkenntnis. Der Wert einer Sache wird erkannt, zugleich die dreifache Tatsache, dass man erstens diesen Wert auch will, zweitens, dass man sich selbst verurteilt, wenn man gegen diesen Wert handelt und, drittens, dass man sich selbst bejaht, wenn man den erkannten Wert lebt.
Zum Beispiel: Ein junger Mann sagt sich, dass seine Freundin Achtung und Respekt verdient und er will ihr auch diese Achtung und diesen Respekt entgegenbringen. Das ist der erkannte und gewollte Wert. Wenn er sie aber dann verletzt, dann zerbricht er etwas in sich selbst, weil er gegen das handelt, was er selbst für sich als Wert bejaht hat. Es stirbt etwas in ihm. Genesis drückt das so aus: „Wenn ihr von diesem Baum esst, dann werdet ihr sterben.“ Was stirbt? Zuallererst ein Teil der inneren Freiheit, die eigenen erkannten Werte zu leben und mit der Zeit sogar die Fähigkeit, diese zu erkennen. Wie ein Sprichwort sagt, „Wenn du nicht so lebst, wie du denkst, beginnst du zu denken, wie du lebst.“ Öfters mache ich die Erfahrung, dass jemand zu mir kommt und sagt: „Ich fühle mich aber nicht schlecht, wenn ich das tue.“ Worauf ich versuche, respektvoll zu fragen, „und warum erwähnst du es dann? Warum betonst du vor mir das so, als müsstest du mir gegenüber diese deine Tat verantworten? Wenn du davon wirklich überzeugt bist, musst du doch mir gegenüber kein schlechtes Gewissen haben, oder?“ Schön ist es zu erleben, dass doch immer wieder Menschen allmählich für sich selbst dann feststellen dürfen, dass sie gar nicht mehr das leben, was sie zutiefst im eigenen Herzen leben wollen. Mehr noch, dass sie gar nicht mehr wirklich frei gewesen sind, diesen Wert zu leben oder sogar zu erkennen. Dass dies jemand erkennen kann, ist schön, weil es den Weg zur Rückgewinnung der inneren Freiheit bahnt und eine reife Liebe ermöglicht.
Zusammengefasst: Verantwortungsbewusstsein entsteht nicht, weil jemand irgendein äußeres Gebot oder eine moralische Vorschrift der eigenen Innerlichkeit aufzupfropfen versucht, sondern weil man im eigenen Inneren den in Frage kommenden Wert erkannt und verinnerlicht, zu eigen gemacht hat, selbst sich für diesen Wert entschieden hat. Die Unschuld bezieht sich auf die Freiheit, diesen erkannten Wert leben zu können, ohne von äußerem oder innerem Druck davon abgehalten zu werden.
Unschuld deutet auf die Echtheit der Liebe hin
Aber nicht nur das, Freiheit und Verantwortung stehen proportional zueinander! Je größer die Freiheit, desto größer die Verantwortung. Das sieht man vor allem in der Liebe ganz deutlich: Je mehr man jemanden liebt, desto mehr fühlt man die Verantwortung für diesen Menschen. Ganz stark erscheint dieser Sachverhalt in der Möglichkeit eines gemeinsamen Kindes. Das Kind bedeutet Verantwortung. Sobald das Kind da ist, kann ich nicht einfach „Tschüss“ sagen – kann man schon, aber verantwortlich ist es nicht, weil es ein Missbrauch der Freiheit ist. Liebe ist es schon gar nicht. Der Egoismus flieht vor der Verantwortung. Liebe sucht Verantwortung, weil die Liebe Interesse am anderen hat. Egoismus ergreift die Flucht vor der Verantwortung, weil er sich nicht für den anderen interessiert, sondern nur für das, was der andere hergibt. Der Egoist ist bereit, seine Befriedigung auf Kosten des anderen zu verfolgen und deswegen will er keine oder nur geringe Verantwortung übernehmen.
Kann man sich eine Beziehung vorstellen, wo die Freiheit immer weniger Fehltritte begeht? Wo die Liebe zueinander so stark ist, dass diese Liebe fähig macht, die Freiheit in verantwortungsvolle Bahnen zu lenken und sie so auf ihre eigentliche Größe hin zu befreien? Die Urerfahrung des Menschen war mit einer unglaublich intensiven Freiheitserfahrung verbunden, gerade weil verantwortlich mit Freiheit umgegangen wurde, weil die Liebe stark war. Liebe hat Regeln, Regeln, die nicht von außen auferlegt werden, sondern die man zutiefst in sich selbst vorfinden und als zutiefst in sich eingeschrieben entdecken kann. Um das zu erkennen, braucht man keine Kirchenpolizei. Das eigene Herz beginnt anzuklagen, wenn man gegen es handelt. Man merkt, dass man nicht beliebig von jedem „Baum“ essen darf, wenn man die tiefen Sehnsüchte des Herzens verwirklichen will.
Das heißt, es gibt eine direkte Proportion zwischen Liebe, Freiheit und Verantwortung. Wenn eines wächst, können auch die anderen beiden wachsen, wenn eines geringer wird, so werden es auch die anderen werden.
Adam war im „Garten“. Durch sein Nein zu Gott im „Garten“ begann der Mensch seine Freiheit zu verlieren. Denn wenn Freiheit mit wachsender Liebe und Verantwortung wächst, dann geschieht auch im umgekehrten Fall das Gegenteil. Mit der Verantwortung zu brechen schwächt die Freiheit. Extremfälle wie Pornosucht zeigen das ganz dramatisch. Freiheit geht verloren, weil die Frau oder der Mann „konsumiert“ wird, genutzt wird, ja genutzt werden „muss.“ Der andere wird nicht mehr als freies Geschenk gesehen, dem man sich schenken kann und dessen freies Geschenk ungezwungen empfangen wird. Der andere wird hier zum Gebrauchsgegenstand und somit wird die freie Liebe zerstört. Im Hohelied heißt es: „Meine Schwester Braut ist ein verschlossener Garten“ – die Frau teilte in Freiheit, Liebe und Verantwortung gemeinsam mit Adam den Garten, ihre Intimsphäre. Er durfte hinein und heraus „ohne Schlüssel“ weil sie wirklich „eins“ waren. Aber in diesem „Garten“ durfte man nicht alles tun. Das Erzwingen, das Ergreifen der Frucht führte zu einem Bruch mit der Freiheit und der Liebe.
Hier geht es erstmals um diese Sehnsucht nach mehr, nach Beziehungen, wie sie „am Anfang“ waren, und darum, was die allertiefste Sehnsucht des Menschen ist. Eine Beziehung, bei der man einfach das sein kann, was man ist, wo es immer weniger Belastungen durch gegenseitige Fehltritte in der Freiheit gibt, wo man gegenseitig ein „offener Garten“ füreinander sein kann, wo Freiheit nicht Beliebigkeit bedeutet, sondern geordnete Liebe in Verantwortung, die der Freiheit ihre wahre Größe verleiht.
Es lohnt sich, den Weg zurück zur „Unschuld“ einzuschlagen. Unschuld ist nicht Naivität, sondern eine Erfahrung des freien Menschen, der durch die Liebe zur authentischen Freiheit heranreift.
Unschuld verleiht den drei Grundbegriffen von Einsamkeit, Gemeinschaft und Nacktheit ihren positiven Wert. Wo die „Unschuld“ angestrebt wird, kann die Einsamkeit als „Einzigartigkeit“ erfahren und gelebt werden, als Vollgebrauch der Freiheit, als persönliche Erfahrung, nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck zu sein, um seiner selbst willen geliebt zu sein, einfach sein zu dürfen, was man ist. Unter dem Banner der Unschuld führt „Gemeinschaft“ zu einem gemeinsamen „Wir“ mittels einer Logik des Gebens statt des Nehmens. Unter dem Einfluss der Unschuld machen die Nacktheit und die fehlenden Masken und Fassaden in der Beziehung den Weg frei. Sie machen ihn frei für die Entdeckung der Größe und des Werts des Geschenks des anderen, aber eben auch des Werts des eigenen Ichs und des eigenen Körpers.
Die Überlegungen dieses Beitrags entstammen etwas modifiziert und ergänzt aus dem von mir geschriebene Buch: „God, Sex & Soul“
Titelbild: ©Antonioguillem / fotolia.de