Ungezähmtes Evangelium

Sonntag, 14. August 2011, ca. 14 Uhr. Vor uns steht er. Einfach so … und hört zu. Wir stehen in einem Halbkreis um ihn herum. Wir sind eine Gruppe junger Leute auf dem Weg zum Weltjugendtag in Madrid. Er heißt Michel-Marie Zanotti-Sorkine, der Pfarrer dieser Riesenkirche. Ja gut, nichts Außergewöhnliches. Nur, die Kirche steht in einem muslimischen Stadtviertel in Marseille.

Im Jahr 2004 hatte der Ortsbischof den Pfarrer Zanotti mit dem Auftrag hierher geschickt, mindestens 30 Menschen am Sonntag in diese Kirche zu bringen. Sollte das nicht gelingen, so hieß es, dann müsse man die Pfarre halt schließen. Unsere Gruppe ist aber kaum sieben Jahre später von einem Gottesdienst in eben dieser Kirche herausgekommen, wo man 15 Minuten vor Beginn da sein musste, um noch einen Sitzplatz zu bekommen. Und das in einer riesigen Kirche. Und das mitten in den Sommerferien. Und das inmitten eines Muslimenviertels. Zanotti hatte in der Osternacht mehr als 50 Erwachsene getauft, darunter 25 Muslime. Um an Perspektive zu gewinnen: Vergangene Woche hat Kardinal Schönborn in einer Feier im Wiener Stephansdom 80 Erwachsene zur Taufe in der Osternacht zugelassen, darunter auch 25 Muslime … Aber diese 25 kommen von einer Diözese, die 660 Pfarren zählt … In Marseille sprachen wir von einer einzigen Pfarre.

Zurück zum Halbkreis. Jemand ergreift das Wort … Sie wissen ja, Herr Pfarrer, das Problem mit den Muslimen in Europa, gerade hier in Marseille, wird immer schlimmer. Sie werden immer mehr. Wir erleben eine Invasion. Wir müssen doch etwas unternehmen! Zanotti wird immer trauriger. Aber sein Gegenüber scheint das nicht zu merken und redet weiter auf ihn ein, lautstark, sodass wir alle es sicher hören können. An einem gewissen Punkt hebt der Pfarrer den Blick, schaut dem Redner in die Augen und sagt: „Wissen sie, ich liebe diese Menschen.“ Ich war baff. Und erstmal war ich einfach still, wie alle anderen im Raum auch. Wow, dachte ich. Das ist eine Lektion für mich als Christ und als Priester, die ich nicht so schnell vergessen möchte. Nicht von oben herab. Nicht „ich bin besser als du“, nicht „Du bist ein Problem“, nicht „Ich habe eine Berechtigung hier zu leben und du nicht“, keine Bewertung, einfach nur … Liebe, nicht die den eigenen Vorteil suchende, nicht die kalkulierende, sondern freigiebige Liebe, Interesse am Menschen, Sorge um ihn, kein Aufpfropfen der eigenen Ideen, sondern die Freiheit lassen und gerade dadurch das Angesicht Gottes zeigen. Christsein eben.
 

Das Evangelium zähmen

Liebe ich den Menschen, dem ich begegne? Oder liebe ich ihn halt dann, wenn es mir passt oder wenn er mir das gibt, was ich mir wünsche? Oder, hinterlistig: Liebe ich ihn, solange er das tut oder das tun wird, was ich will? Ist meine Liebe wirklich bedingungslos? Will ich wirklich das Beste für den anderen um seiner selbst willen suchen? Das ist die Frage, die ich mir als Priester und Christ immer wieder stelle und stellen muss. Liebe ich, um wie Mutter Teresa von Kalkutta zu sprechen, bis es weh tut? Egal ob Kranker, Armer, Reicher, Hindu, Christ oder Muslim, Flüchtling oder Einheimischer, sympathisch oder nicht, Sünder oder Heiliger, ob er mir wohlwollend entgegenkommt oder ob er mich umbringen will? Die Flüchtlingskrise fordert uns Christen heraus. Denn für den Christen ist der Nächste einfach der, der vor ihm steht. Da gibt es keine Ausnahme. Ein Christusnachfolger kann seine Liebe zu Gott nicht mehr von seiner Liebe zum Nächsten trennen, unter keinen Umständen. Wie oft hat man diese völlig herausfordernden Worte aus der Hl. Schrift gehört. Aber vielleicht hat das Sozialgefüge, in dem man hier in Europa aufgewachsen ist, dazu beigetragen, dass Bibelstellen gezähmt wurden, wenn sie nicht sogar völlig harmlos und letztlich wirkungslos an einem abprallen? Wie sieht es denn angesichts der Flüchtlingskrise aus mit „Halte die andere Wange hin, gehe die Extrameile, gib dem, der deinen Mantel wegnimmt, auch das Hemd“ (vgl. Lk. 6, 29) oder mit „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner.“ (1 Joh 4, 20) oder mit „Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder, und ihr wisst, kein Mörder hat ewiges Leben… Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben.“ Wenn jemand vermögend ist und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit.“ (1 Joh 3, 14-18) Es gibt genug solche Stellen, zum Beispiel „Liefere die Flüchtlinge nicht aus am Tag der Not“ (Ob 14) oder „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen … Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten?“ (Mt. 5, 43-47) Und, fast erschreckend herausfordernd, das gestrige Tagesevangelium: „Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht. ….Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.“ (Mt 25, 41-46).
 

Das Evangelium entzähmen

In diesen Tagen wird viel von der Ernsthaftigkeit der Flüchtlingssituation gesprochen. Vor kurzem las ich in einem Angst schürenden, sich als christlich ausgebenden Informationsblatt, dass die „3. islamische Invasion“ bevorstehe und man unbedingt diese Information weitergeben müsse, denn die Wahrheit mache ja frei. Hilfe! Die Wahrheit macht uns frei – ja, aber Jesus sprach hier an erster Stelle von der rettenden Wahrheit, die er selbst ist. Irgendwelchen Wahrheiten nachzulaufen kann befreien, aber auch versklaven. Ideologie entsteht immer dort, wo die Idee wichtiger wird als der Mensch, dem sie angeblich dienen soll. Man kann viel analysieren. Man kann viel reden. Aber wenn alles nur im Kopf bleibt und es nicht zu einer liebenden Begegnung mit den Menschen kommt, „wäre ich nichts“. (1 Kor 13,2) Man kann viel diskutieren. Beim Stammtisch, bei Kaffee und Kuchen. Am Handy und im Chat. Jesus hat aber die Welt nicht mit Diskutieren gerettet, sondern durch seine Hingabe an uns. Man kann sämtliche Lösungen perfekt ausarbeiten und dann frustriert sein, weil „die Politiker“ sie nicht umsetzen. Die Bösen, die wollen ja nur die nächste Wahl gewinnen. Ich habe nichts gegen Politik. Bitte mich nicht falsch zu verstehen: Nur, der Flüchtlingskrise ist nicht geholfen, indem man die eigene Verantwortung aufgibt, indem man alles schön „nach oben“ – zur Politik – delegiert, aber am Ende selbst keinen Finger bewegt. Die Flüchtlingskrise ist an erster Stelle kein politisches Problem und deswegen ist die Lösung an erster Stelle nicht auf politischer Ebene zu suchen. Der Ursprung dieses Problems liegt im Herzen des Menschen, nicht in den Strukturen, die er gebaut hat. Ändere das Herz, dann ändern sich Strukturen von alleine! Das heißt nicht, dass man nicht auch auf die Strukturen schauen sollte. Aber die primäre Antwort des Christen auf die Herausforderung der Flüchtlingskrise steuert zuallererst auf das Herz des Menschen zu, beginnt mit der eigenen Haltung und der eigenen Umkehr. Das mag schwach, unvernünftig, zu wenig aussagekräftig zu sein. Der Weg über politische Macht scheint doch viel einfacher. Aber genau den hat Jesus im Evangelium am vergangenen 1. Fastensonntag als Versuchung des Teufels zurückgewiesen. Er ist einen anderen Weg gegangen, einen Weg, den wir besonders in dieser Fastenzeit und vor allem in der Karwoche betrachten. Es ist ein Weg, der viel demütiger ist und Liebe heißt und besagt: Du bist mir wichtiger als ich, für dich bin ich bereit, das eigene Leben zu geben. Und wir, die wir uns als Christusnachfolger zu beschreiben wagen, sollten uns vielleicht immer wieder fragen, warum ist er gerade diesen Weg gegangen und was heißt das jetzt für uns, für dich, für mich, gerade in dieser Krise? 

 

Das ist meine leicht abgeänderte Einleitung zum unserem 15. tägigen Newsletter. Den kann man hier abonnieren.

Titelbild: ©Fotolia.de