Ich bin mehr als du weißt / mehr als du hier siehst / mehr als du mich sein lässt / mehr als du kennst / ein Körper in einer Seele / Noch siehst du mich nicht, aber du wirst mich sehen / Unsichtbar bin ich nicht / Ich bin hier. U2. Invisible.

Irgendwo um die 40 Grad Hitze, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und ein schwarzes Priestergewand waren die besten Zutaten, um die eigentliche Körperlichkeit sehr bewusst wahrzunehmen. Aber gut, Venedig im Hochsommer sollte ja fast nichts anderes bieten. Nur war ich im Juli 2013 nicht nach Venedig gepilgert, um wärmere Klimazonen aufzuspüren, sondern um die Biennale der Zeitgenössischen Kunst zu besuchen. Ich betrachtete soeben die Exponate im von Cindy Shermann kuratierten Raum. Was ich dabei erlebte, kann am besten mit einer von mir kurz danach in der Zeitschrift „Kunstkritik“ entdeckten Bildergeschichte wiedergegeben werden. Diese versuchte kurz und bündig den Unterschied zwischen klassischer und zeitgenössischer Kunst zu erklären. Erste Darstellung: Ein Kunstlehrer deutet mit seinem Stab auf ein Gemälde und erklärt seinen Studenten, „Dieses Werk ist…“ Zweite Darstellung: Das Bild wird lebendig und schreit den Lehrer an, „Und wer bist du?“ Die Exponate im von Cindy Shermann kuratierten Raum schrien mich regelrecht an. Shermann hatte versucht, mit verschieden Darstellungen, zum Beispiel anhand von Idolen der Popkultur, zum Nachdenken anzuregen, wie Menschen oder anhand wovon Menschen sich zu definieren versuchen. Welche Rolle spielt dabei der Körper? Wie sieht dieser Körper aus? Was halten andere vom eigenen Körper? Was für einen Wert hat überhaupt der Körper? Muss der eigene Körper wie der Körper von jemand anderem aussehen, damit das Selbstwertgefühl steigt? Wie kann man sich in Kategorien wie „schön“ oder „cool“ oder „fesch!“ wiederfinden? Was passiert, wenn der eigene Körper diesen Kategorien nicht entspricht? Um festzustellen, dass der „Körper“ eine Hauptrolle in unserer Kultur eingenommen hat, braucht man allerdings nicht nach Venedig zu reisen. Ich stelle es jeden Morgen fest, wenn ich an unserem Nachbargebäude, an dem mit Bildern von leicht bekleideten Frauen und mit Schlagwörtern wie „der perfekte Körper“ und „geschminkter Körperkult“ dekorierten Laden vorbeigehe.

Was ist der menschliche Körper? Auf diese Frage gibt es natürlich viele Antworten und diese hängen wiederum vom Blickwinkel ab, von dem aus man sich mit dem Körper auseinandersetzt. Die Perspektive des Mediziners unterscheidet sich von der des Soziologen, Psychotherapeuten oder des Biochemikers.

Die Sicht des Glaubens bietet wiederum eine andere Perspektive. Das Grundaxiom dieser Perspektive gründet auf folgendem Prinzip: Das, was am meisten real ist an dieser Welt, ist nicht das, was wir sehen, sondern das, was wir nicht sehen. Nur, das, was wir nicht sehen, wird uns gegenwärtig durch das, was wir sehen. Der Körper vergegenwärtigt den Menschen. Ohne Körper kein Mensch. Aber der Mensch ist mehr als der Körper: „Mehr, als du hier siehst, mehr, als du kennst, mehr, als du zulässt…ein Körper in einer Seele, du siehst mich nicht, aber du wirst mich sehen, unsichtbar bin ich nicht, ich bin hier.“

Es gibt ein höchst kompliziertes Wort, das in der Kirche benutzt wird und zum Ausdruck bringen will, dass es beim Körper des Menschen um mehr geht als um das, was ins Auge fällt. Dieser Begriff aber scheint eine Tür zum Verständnis des Körpers aufzutun. Es handelt sich um das Wort „Sakrament“. Dieser Begriff „Sakrament“ drückt in Bezug auf den Körper zweierlei aus. Erstens: Der Körper vergegenwärtigt eine unsichtbare Wirklichkeit. Zweitens: Der Körper ist ein Geschenk. Was heißt das konkret?

 Ich bin mehr als du siehst.

Die folgende Definition muss später in diesem Kapitel noch weiter ergänzt werden, aber für den Moment könnte man ein Sakrament in diesem weiteren Sinn als die Vergegenwärtigung einer unsichtbaren Wirklichkeit durch ein sichtbares Zeichen bezeichnen. Das sichtbare Zeichen deutet nicht nur hin auf die unsichtbare Wirklichkeit, sondern es vergegenwärtigt sie, setzt sie. Zum Beispiel: Ein Freund schenkt seiner Freundin eine Blume. Was passiert hier? Geht es nur um verschiedene biochemische Reaktionen, wobei ein körperliches Wesen einem anderen körperlichen Wesen ein biologisches Produkt vor die Nase hält? Oder geht es doch nicht eher um viel mehr? Und besteht dieses „Mehr“ nur aus der Blume selbst? Ja, vielleicht, aber ist das alles?

Ist es nicht so, dass die Blume zum Botschafter einer tieferen Wirklichkeit wird, der Liebe des Freundes? Die Blume (sichtbar) wird zum Zeichen der Liebe (unsichtbar). Es geht aber noch weiter. Das Schenken der Blume deutet nämlich nicht nur auf die geschenkte Liebe hin, ist nicht nur ein Zeichen dieser Liebe, sondern es vergegenwärtigt sie; ohne Blume, keine Liebe. Und daher ist die Blume nicht unwichtig. Die letzten halb-verwelkten Blumen noch kurz vor Ladenschluss würden nämlich auch etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen. Im äußeren Zeichen offenbart sich die innere Herzenshaltung. Aber nicht nur im Zeichen selbst. Auch das Wie, Wann und Wo sagt viel aus. Ein Kuss. Es geht nicht um ein weiches Etwas auf der Wange oder auf dem Mund. Der Kuss vergegenwärtigt die Liebe dessen, der küsst, er offenbart sie, macht sie präsent und real. Natürlich kann man sich Beziehungen vorstellen, wo Blumen nicht vorkommen. Ich kenne so eine. Worauf es aber ankommt, ist, dass die Liebe sich nach außen hin zeigen muss, sonst kann sie nicht wahrgenommen werden und ist auch gar nicht vorhanden. Natürlich hätte der Freund etwas anderes tun oder schenken oder sagen können, aber egal was er tut oder schenkt oder sagt, es ist immer das sichtbare Zeichen, das die unsichtbare Liebe vergegenwärtigt. Ohne das Zeichen wäre die Liebe im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos. Sie hätte keine Möglichkeit, sich deutbar auszudrücken und wäre demnach nicht erkennbar. Der Mensch kann nur mittels des Körpers seine Liebe zeigen: eine Geste, ein Wort, eine Tat, ein Blick. Es geht nicht anders. Dass der Mensch nur durch den Körper Liebe vergegenwärtigen kann ist nicht schlecht, kein Handicap oder keine Einschränkung, sondern verdeutlicht vor allem, wie kostbar und wichtig der Körper ist.

P.George Elsbett LC / Dieser Beitrag gehört zu der neuen Serie von Beiträgen zum Thema “Theologie des Leibes”. Die Beiträge entstammen seinem Buch, “God, Sex & Soul” / Bild ist eine Eigenaufnahme des Autors.

 

Pater Lic. George Elsbett LC (geb. 1972 in London) ist Hausoberer der Niederlassung der Legionäre Christi in Wien und Regionalkoordinator des Regnum Christi in Österreich. Er ist in Kanada aufgewachsen, trat 1993 in das Noviziat ein und studierte Philosophie und Theologie in Rom. 2003 empfing er die Priesterweihe und wirkt seither in Österreich, wo er sich auf Theologie des Leibes, Ehe- und Berufungspastoral spezialisiert hat.