Es war im Sommer 2002. Gut, Sommer war es eigentlich noch nicht. Aber jeder winterliebende Kanadier, der mal in Rom Ende Mai eine Unibibliothek hat aufsuchen müssen, weiß, was ich mit „Sommer“ meine. Und doch, an diesem hochsommerlichen Tag im Mai war mir die Temperatur egal. Selten war ich so in ein Buch vertieft wie damals.129 dichte Impulsvorträge zum Thema Sehnsucht, Liebe, Körper und Sexualität wurden in einem Buch zusammengefasst und mit dem unscheinbaren Titel „Theologie des Leibes“ versehen – vielleicht war der Titel mit ein Grund dafür, dass ich das Buch nicht schon viel früher entdeckt hatte. Der Autor: Johannes Paul II. Das Leitmotiv: Der Weg zum Menschen, und letztlich zu Gott selbst, führt über den eigenen Körper – ausgehend von den eigenen Sehnsüchten und dem eigenen Verlangen, ausgehend vom Eros. Hier war jemand dem Eros auf der Spur. Hier ging jemand der Sehnsucht auf den Grund. Das wurde mir relativ schnell klar. Sehnt man sich nach Erfüllung? Nach Glück? Nach Geborgenheit? Nach Wertschätzung? Nach einer Bestätigung, die wirklich zufriedenstellt? Nach einer Anerkennung, die nicht nur aus leeren Worten besteht? Nach innerem Frieden und Freiheit? Die These des Papstes: Der Körper zeigt den Weg dorthin. Der Körper liefert eine Landkarte, ein gutes Navi. Er erklärt, wer wir sind und er ist Wegweiser für die Deutung des Verlangens. Aber „Körper“ nicht abstrakt – sondern Körper als eigener Körper, ich, als Mann, als Frau, der Körper gerade auch in seiner Sexualität. Dieser Körper spricht eine Sprache, die es zu lesen gilt. In seiner sogenannten „Theologie des Leibes“ versucht Johannes Paul II. diese Sprache zu entziffern, Einsichten darüber anzubieten, wie das Navi funktionieren könnte, die Karte zu erklären. George Weigel, ein amerikanischer Papst-Biograph prophezeite: Die „Theologie des Leibes“ sei eine „theologische Zeitbombe, die irgendwann in der Zukunft mit unbeschreiblicher Gewalt explodieren und unsere Sichtweise über die Körperlichkeit als Mann und Frau, die Sexualität, die gegenseitigen Beziehungen, die Beziehung mit Gott – über Gott selbst – nachhaltig umformen wird.“ Aber er schrieb auch, dass die dichten, sehr kompakten Gedanken übersetzt werden müssten, damit jemand, der nicht zufällig Spezialist in philosophischen und theologischen Themen ist, damit etwas anfangen könne. Genau hier gilt es anzusetzen: bei der Übersetzung, beim Erschließen eines Zugangs, einer Gelegenheit zur kritischen Auseinandersetzung. Darum geht es mir in diesen Beiträgen.

Auf den Punkt gebracht: Die Erklärung des Eros sowie dessen Gebrauchseinweisung ist im eigenen Körper eingeschrieben. Der eigene Körper offenbart, zeigt, deutet hin, erklärt uns den Eros. Diese Beiträge möchten eine Lesehilfe sein. Es werden zehn Begriffe der „Theologie des Leibes“ von Johannes Paul II. präsentiert, die meines Erachtens in ihrer Gesamtheit am besten geeignet sind, diese Vision einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Darstellung anhand der zehn Begriffe mag dem Leser zu Beginn etwas bruchstückhaft erscheinen. Ich habe allerdings in den letzten Jahren immer wieder in Seminaren und Vorträgen erfahren, dass der Versuch, die doch recht komplexen und vielfältigen erwägungen des Papstes anhand der wesentlichen Hauptbegriffe (anstatt einer systematischen Darlegung) darzustellen, wesentlich zum Gesamtverständnis beigetragen hat. Ich hoffe, dass dies hier der Fall sein wird. Es geht also um Begriffe, die rund um den Eros, um das erotische Urverlangen des Menschen angesiedelt sind.

Woher kommen diese Begriffe? Ausgangspunkt für die Erwägungen des Papstes ist ein Streitgespräch zwischen Jesus von Nazareth und einigen Zuhörern über die Ehescheidung, die Mose erlaubt hatte. Die Behauptung stand im Raum: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so“ (Mt 19,8). Es ist allerdings nicht die Frage der Scheidung, die für den Papst im Vordergrund steht, sondern die Frage nach dem Anfang. Um hierauf eine Antwort zu finden, kommt er auf die ersten drei Kapitel des Buchs Genesis, dem ersten Buch der Bibel, zurück. Was war denn am Anfang? In seinen Überlegungen besitzt „der Anfang“ nicht nur eine geschichtliche Dimension als Zeitpunkt.

Der „Anfang“ steht gewissermaßen auch über dem Lauf der Geschichte und wirkt in jeden Teil von ihr hinein. Der Anfang beschreibt die Urerfahrungen des Menschseins und ruft damit jene Erfahrungen in Erinnerung, die jedem Menschen zutiefst zu eigen sind. Genesis beschreibt das Ur-Menschliche, das, was trotz aller Entstellung und Verletzung am Anfang jeder authentischen menschlichen Erfahrung steht, wobei der erste Mensch einfach als das Paradigma des Menschseins überhaupt zu verstehen ist und seine Erfahrungen gewissermaßen in jedem Menschen wiederzufinden sind. Das heißt, wenn von den zehn Begriffen die Rede ist, dann finden diese Begriffe im Buch Genesis ihren Ursprung, aber gerade deswegen sind sie keine Begriffe aus längst vergangenen Zeiten, sondern ihre Spuren sind in jeder Zeit und in jedem Menschen wieder auffindbar. Die Geschichte von Adam und Eva spiegelt sich nuanciert in jedem Menschenleben wider. Genesis ist mythisch geschrieben. Das soll heißen, dass die dortigen Aussagen über diesen zuerst mehr und dann weniger paradiesischen Zustand vor allem als Bilder der Wirklichkeit zu

verstehen sind. Anders gesagt, Genesis ist kein naturwissenschaftlicher Bericht, sondern im Text werden bleibende Wahrheiten thematisiert, dazu in die Sprache und das Verständnis der damaligen Menschen gekleidet und durch Bilder (einen Garten Eden, der Baum von der Erkenntnis von Gut und Böse, die Frucht, die Nacktheit ohne Scham usw.) vermittelt. Bilder bieten Ausdrucksmöglichkeiten und können einen Dialog mit dem Zuhörer bzw. Zuschauer ermöglichen, der suprahistorische Charakterzüge annimmt. Noch eine Bemerkung zum Anfang. Adam und Eva befinden sich in einem Garten. In diesem Beiträgen wird der Garten von Genesis vom Garten des Hohelieds her (ein weiteres Buch der Bibel) näher interpretiert: „Ein verschlossener Garten ist meine…Braut“ (Hld 4,12). Die ersten Kapitel vom Buch Genesis und das

Hohelied der Liebe ergänzen einander. Sie, Eva, hat den Schlüssel, er, Adam, kann in diesen Garten hineintreten, wenn sie ihn eintreten lässt. Er kann aber auch gewaltsam hineingelangen. Es geht in der Bildersprache von Genesis nicht ausschließlich um die Intimsphäre zwischen Mann und Frau – aber eben doch auch.

Jetzt zu den zehn Begriffen, die in diesen Beiträgen behandelt werden sollen. Beim ersten Begriff, geht es um den Körper selbst. Dann folgen drei Begriffe, die Hauptsäulen der Theologie des Leibes: „Einsamkeit“, „Gemeinschaft“ und „Nacktheit“. Diese drei Begriffe werden positiv gepolt, solange sie unter dem Einfluss der „Unschuld“ stehen, negativ, wenn sie unter den Einfluss der „Begierde“ geraten. Das heißt: Einsamkeit, Gemeinschaft und Nacktheit können als äußerst positiv, erbauend und beglückend erfahren werden. Die Wirklichkeit, die hinter diesen drei Begriffen steht, kann aber pervertiert werden. Ersteres geschieht durch die Unschuld, Letzteres durch die Begierde. Die Einsamkeit als positiver Begriff wird erweitert durch die „Erlösung des Herzens“, die Gemeinschaft finde eine weitere Dimension durch den „inneren Blick“, die Nacktheit durch die „Scham“ . Diese Begriffe eröffnen dann ein tieferes Verständnis vom Körper selbst und von dessen „bräutlicher Dimension“.

P. George Elsbett LC / Dieser Beitrag ist der erste einer neuen Serie von Beiträgen zum Thema “Theologie des Leibes”. Die Beiträge entstammen seinem Buch, “God, Sex & Soul” / Bild ist eine Eigenaufnahme des Autors.

 

Pater Lic. George Elsbett LC (geb. 1972 in London) ist Hausoberer der Niederlassung der Legionäre Christi in Wien und Regionalkoordinator des Regnum Christi in Österreich. Er ist in Kanada aufgewachsen, trat 1993 in das Noviziat ein und studierte Philosophie und Theologie in Rom. 2003 empfing er die Priesterweihe und wirkt seither in Österreich, wo er sich auf Theologie des Leibes, Ehe- und Berufungspastoral spezialisiert hat.