11. Juli. (Tag 6)
Endlich auf der Ridge. Links und rechts stürzen die Felsen einige hundert Meter in die Tiefe. Zu Beginn konnten wir davon aber nicht viel sehen. Die Wolken und der Nebel hatten die Sichtweite auf 30-100m reduziert. An einer Stelle brauchten wir die Seile, um weiterzukommen. Laut Karten sollte es hier noch nicht einmal steil sein. Wie würde das weitergehen? Die wirklich schwierige Stelle lag noch vor uns: ein hauchdünner Streifen, so sah der Kamm dort auf der Karte aus. Als wir dann ankamen, war es aber eine der leichtesten Stellen überhaupt. Der Kamm war an dieser Stelle nämlich doch 6-8 Meter breit, und der dichte Nebel hat dafür gesorgt, dass wenigstens hier wirklich jeder schwindelfrei war.
Inzwischen sitzen wir am höchsten Punkt des Tages. Wir haben soeben Messe gefeiert. Zum ersten Mal bricht die Sonne zwischen den Wolken durch und wir können bestaunen, in was für einer Landschaft wir uns eigentlich befinden. Und was für einen Kamm wir gerade begehen. In der Distanz kann man schon den gewaltigen Wasserfall sehen, der vom Misery Lake ins darunterliegende Tal donnert. Dort, am Misery Lake, wollen wir heute Nacht unser Lager aufschlagen. Wir müssen nur noch irgendwie hinkommen.
Jemand hat einmal gesagt, dass diese Ridges zuweilen wie das Leben selbst sind. Manchmal kannst du zehn Meter sehen, manchmal einen ganzen Kilometer. Du weißt nicht, was in fünf Jahren sein wird, noch nicht einmal, was morgen bringen wird. Manchmal sind die schwierigsten Stellen die einfachsten und die einfachsten die schwierigsten. Manchmal gibt es Lichtblicke, oft genug scheint man im Nebel versunken zu sein. Zuweilen sieht man viel, zuweilen fast gar nichts. Es erinnert mich an das Gebet von John Henry Newmann, „Herr, ich bitte dich nicht darum, dass du mir den gesamten Weg zeigst. Aber bitte zeige mir den nächsten Schritt.“
Unsere Gruppe wird immer mehr zusammengeschweißt. Es ist wirklich schön zu sehen, wie jeder seine Talente und Gaben einbringen kann. Das ist mir heute an der Ridge besonders bewusst geworden, als unsere Seilexperten ans Werk gingen, Felix sich mit der Route beschäftigte, Klemens mit den Aufnahmen für unseren Film „Capable“, Theresia schaute, dass jeder sein heißes Wasser hatte, einige einfach gute Stimmung machten und man allgemein merkt, wie man immer mehr aufeinander schaut. Für mich eine Erfahrung im Kleinen von dem, was die Kirche als solches im Großen sein sollte. Eine Gruppe von Menschen, die einander an der Ridge des Lebens unterstützen, dass sie auf dem Weg bleiben, die Richtung finden, sich gegenseitig ermutigen, füreinander da sind, einander stützen, miteinander und füreinander beten, sich gegenseitig inspirieren, die beste Version ihrer selbst zu werden. Der Blick für den anderen ist ja nichts anderes als die Wende des „Kainprinzips“: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9)


