Du, den meine Seele liebt, /sag mir: Wo weidest du die Herde? Wo lagerst du am Mittag? Wozu soll ich erst umherirren/ bei den Herden deiner Gefährten?
Wenn du das nicht weißt, / du schönste der Frauen, dann folge den Spuren der Schafe, / dann weide deine Zicklein/ dort, wo die Hirten lagern. (Hld 1,7-8)
Der Hirte
Die Frau hat nicht irgendeinen Kosenamen für ihren Geliebten, sondern spricht ihn an mit Du, den meine Seele liebt. Heute würde man das vielleicht nicht mehr unbedingt sagen, aber irgendwie ist es trotzdem schön. Es drückt auf jeden Fall aus, dass sie ihren Geliebten über alles liebt.
Die Bezeichnung für ihren Geliebten ist so außergewöhnlich, dass der Bezug zum Alten Testament schnell auffällt, denn auch im Buch Deuteronomium 6,5 wird das Volk Israel aufgefordert Gott „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ zu lieben. Wie wir sehen, scheint auch in diesem Vers des Hoheliedes Gott selbst durch. Auf der einen Seite spricht es tatsächlich von einer Liebe zwischen Mann und Frau, auf der anderen Seite jedoch auch von der Liebe Gottes zu einem jedem von uns.
Deutlich wird dies auch an dem Bild, welches nun verwendet wird. Während der Geliebte zu Beginn des Liedes noch als König bezeichnet wurde, befindet er sich nun unter den Hirten, ja, ist selbst ein Hirte. Auch Gott wird oft als der gute Hirte beschrieben, wie z.B. in dem wohl bekanntesten Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.“
Die Suche
Liest man nun diese Verse des Hoheliedes mag man überrascht sein, denn entgegen aller Erwartung, weiß die Frau nicht, wo sich ihr Geliebter befindet. Daher scheint sie die Fragen einfach laut zu denken. Eine Antwort von ihm kann sie auf jeden Fall nicht erwarten. Wo weidest du die Herde? Wo lagerst du am Mittag?
Auch der weitere Vers verwirrt, denn anscheinend stapft sie sehr orientierungslos bereits durch andere Schafherden, oder ist zumindest kurz davor dies zu tun. Wozu soll ich erst umherirren bei den Herden deiner Gefährten? Wer aber sind diese anderen Herden mitsamt ihrer Hirten? Welche Bedeutung haben sie?
Um den Fragen auf den Kern zu kommen, ist es interessant zu sehen, in welchen Texten der Bibel die Hirtenmetaphern vorkommen. Besonders sind es jene Texte, die von der Heimführung Israels aus dem Exil erzählen. Mehrmals in der Geschichte wurde das Volk Israel verschleppt und stand unter der Herrschaft fremder Völker und Könige. Diese fremden Könige können mit den Gefährten gemeint sein, denn auch die Könige anderer Völker werden im Alten Testament manchmal als „Hirten“ betitelt (vgl. Jer 6,3). Dennoch sind sie mit dem Gesalbten JHWHs nicht zu vergleichen, d.h. mit Christus. Die Einzigartigkeit seiner bleibt, wie es z.B. in Psalm 45,8 deutlich wird, wo es heißt: „(…) darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit dem Öl der Freude wie keinen anderen deiner Gefährten.“
Auch zu Beginn des Hoheliedes selbst ist vom Duft des Salböles die Rede, welcher den Geliebten umgibt. Es wird also deutlich, dass es durchaus möglich ist, das Volk Israel im Bild der Frau zu entdecken, welches sich im Exil befindet und nach dem Land JHWHs Ausschau hält, sich nach diesem sehnt.
Im weiteren Vers erhebt nun plötzlich jemand seine Stimme und spricht die Frau an. Wer es ist, bleibt ungewiss. Vielleicht sind es die Frauen, die bereits zu Beginn des Liedes gesprochen haben. Auf jeden Fall ruft die Stimme die Frau auf fortzugehen, hinauszuziehen, aufzubrechen, den Geliebten zu suchen. Jedoch nicht irgendwie planlos, sondern auf den Spuren der Schafe, d.h. auf den Spuren jener, die den Weg bereits gegangen sind.
Die Sehnsucht nach einer immer tieferen Liebe
Wenn ich diese zwei Verse des Hoheliedes reflektiere, drückt sich durch besonders eins aus: Eine Suche – eine Suche nach dem Geliebten, eine Suche nach Gott. Doch was haben diese Verse mit mir, mit meinem konkreten Leben zu tun? Ich glaube sehr viel. Ich denke, dass sich in diesen wenigen Versen der Schlüssel zu einer gelingenden Beziehung finden lässt. Der Schlüssel liegt in der immer tieferen Suche nach Gott, der uns hilft, immer stärker und wahrhaftiger lieben zu können, sodass sich irgendwann sogar seine Liebe in unseren gegenseitigen Beziehungen wiederspiegelt.
Auch entspricht es der Wahrheit, dass jede Liebe, sei es zu Gott oder auch zu unseren Mitmenschen, stets eine Suche bleiben muss. Denn wir werden nie fähig sein, den Anderen jemals ganz zu erfassen. Somit ist die Liebe stets eine Suche, eine Suche danach, den anderen immer mehr zu entdecken, ihn immer tiefer zu lieben.