Freiheitsverlust
Die Begierde reduziert das Blickfeld. Das war Thema des vorherigen Blogbeitrages. Man verbringt immer mehr Zeit und Energie damit, dem begehrten Objekt hinterherzulaufen. Wenn dieses Objekt aber ein Mensch ist, dann geht es eigentlich immer weniger um diesen konkreten Menschen, der inmitten einer wachsenden Begierde immer mehr verkennt wird. Es geht nicht um ihn oder um sie. Es geht um das, was man an Genuss von diesen Menschen oder mittels dieses Menschen zu erreichen hofft. Aber Begierde reduziert nicht nur das Blickfeld, sondern bahnt den Weg zu einem immer dramatischeren Freiheitsverlust. Der Film „Flight“ aus dem Jahr 2012 inspirierte sich am tragischen Alaska Airlines Flug 261 vom 31. Jänner 2000. Der Hauptdarsteller, Denzel Washington als Whip Whitaker, Alkoholiker und Pilot einer Unglücksmaschine, wird in einem gewissen Moment von seiner Freundin damit konfrontiert, dass er Sklave des Alkohols geworden sei. Worauf er antwortet: „Was! Ich bin frei! Ich entscheide mich für den Alkohol! Deswegen habe ich mich sogar entschieden, fern von meiner Frau und meinem Sohn zu leben!“ Fassungslos über die innere Verblendung von Whip, dass er sogar noch in demselben Augenblick, in dem es ganz offensichtlich wurde, wer sein Herr war, denkt, frei zu sein, fasst sie die Entscheidung, ihn zu verlassen. Die Tragik: Die Verblendung wächst mit der Gier. Man meint, freier zu werden, wird aber eigentlich immer unfreier. Im Lied „Broken Crown“ von der Band Mumford & Sons wird die Gefahr des Freiheitsverlustes so ausgedrückt:
„Der Zug an meinem Fleisch war einfach zu stark, er erstickte meine Entscheidung und die Luft in meinen Lungen. Besser nicht zu atmen als eine Lüge zu inhalieren…“
Genau das verursacht die Begierde: den allmählichen, aber Gott sei Dank nie völligen Verlust deiner Gelegenheit zu einer freien Entscheidung und zusätzlich den allmählichen, aber auch hier Gott sei Dank, nie völligen Verlust der Fähigkeit, überhaupt zu erkennen, dass dabei die Freiheit verloren geht. Oder anders: erstens, der Verlust der Wahlfreiheit aufgrund der Gier und zweitens, die Gefahr des daraus resultierenden Selbstbetruges.
In vorherigen Blogbeiträgen kam die „Unschuld“ zur Sprache: ein Zustand, in dem das „Ja“ noch etwas beinhaltet, in dem das „Ja“ wirklich das Resultat einer freien Entscheidung ist und somit ein authentisches Geschenk seiner selbst ermöglicht. Und das heißt konkret, dass beim Miteinander-Schlafen die Verantwortung für den anderen voll übernommen und sogar gewollt und begehrt ist, weil der andere in seiner Ganzheit geliebt und angenommen wird. Die Unschuld weist auf eine Herzenshaltung hin, in der Freiheit von der Versklavung des Triebes herrscht. Wo im Gegenteil der Apfel – wie in Genesis – entrissen oder jemandem übergestülpt wird, entsteht Sklaverei und Machtausübung. Nicht dass ich mich in der Szene auskenne, aber vor kurzem machte mich jemand auf das doch sehr krasse Beispiel der Sängerin Rihanna aufmerksam:
I want you to be my sex slave Anything that I desire… She may be the queen of hearts But I’m gonna be the queen of your body parts Suck my cockiness, Lick my persuasion, Eat my poison, And swallow your pride down, down… I can be your dominatrix Just submit to my every order
Rihanna, Cockiness (Love it), 2011
Hier geht es nicht um Freiheit, sondern genau ums Gegenteil, um sexuelle Imperative.39 Aber im Bereich der Sexualität ist Freiheit ein großes Wort. Kann man nicht schlafen, mit wem man will? Ja, sicher! Aber die eigentliche Frage bleibt: Befreit sexuelle Beliebigkeit wirklich? Kann man nicht mit seinem Körper machen, was man will? Ja, natürlich! Aber, ob das frei macht, hängt davon ab, was man zu tun wählt, hängt von der Bestimmung ab, die man seiner Freiheit verleiht. Nicht jede freie Entscheidung ist freiheitsfördernd. Süchte zeigen das ganz deutlich. Durch viele Entscheidungen schränkt man immer mehr die eigene Freiheit ein. Oder ganz extrem: Von einer Brücke stürzen kann man sich. Man kann. Denn man ist frei. Aber im selben Augenblick wird die eigene Freiheit durch eine Freiheitsentscheidung aufgehoben… weil man tot sein wird, und dann ist es aus mit der Freiheit. Begierde bringt nicht gleich den Tod. Aber Sterben tut schon etwas: Die Liebe stumpft ab. Begierde trocknet die Liebe immer aus, weil die Bedingung für die Liebe, ihr Humus, die Freiheit, verlorengeht. Liebe muss hier abstumpfen, kann nicht anders, denn ihr Wesenszug besteht im bewussten, ohne Zwang gegebenen „Ja“. Und dieses freie „Ja“ wird von der Begierde außer Kraft gesetzt. Bei der Begierde geht es um Kontrolle, Machtausübung, Besitzergreifung. Ein von Gier getriebener Adam wird nicht zulassen wollen, dass seine Eva über sich selber bestimmt, ihre Freiheit in Bezug auf die von Adam begehrte Sache ausübt. Deswegen muss der von der Begierde getriebene Adam Macht über die Liebe selbst gewinnen. Denn die Liebe scheint für ihn nicht vertrauenswürdig genug zu sein, sie ist zu unsicher, birgt zu viel Risiko, da es bedeuten würde, Eva müsste ihre Freiheit bewahren, und das würde ja heißen, sie, die Begehrte, könnte etwas tun oder verlangen oder wünschen, was er als Begehrender nicht will.40 Für die Begierde darf der andere nicht einfach in seiner Einzigartigkeit sein, er muss vielmehr das sein, was die Bedürfnisse des Begehrenden befriedigt. Der Wert einer begehrten Eva besteht für den begehrenden Adam gerade in ihrer Fähigkeit, seine Begierde zu befriedigen.
Das alles will sagen, Begierde führt zu einem dreifachen Freiheitsverlust. Erstens in dem Begehrenden selbst. Er selbst gibt die eigene Freiheit auf. Das „Muss“ gewinnt in ihm die Überhand über das „Ich will“: Ich muss das Schokocroissant essen, ich muss der Begierde nachgeben, ich muss den Apfel essen. Die Freiheit des anderen, aber auch die eigene Freiheit wird eingeengt. Dieser Freiheitsverlust macht den Begehrenden immer unfähiger zur Liebe. – Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt wurde: „Was bedeutet das ‚Ja‘, wenn man nicht ‚Nein‘ sagen kann?“. Freiheit besteht eben nicht nur in der Freiheit von etwas, zum Beispiel von Hindernissen, die die Freiheit einschränken, sondern vor allem in der Freiheit für etwas oder jemanden, für das oder für den man sich entscheidet, für das oder für den man sich entscheiden will, nicht weil es keine anderen Optionen gäbe, sondern weil man nicht anders möchte. Zweitens führt die Begierde zu einem Freiheitsverlust im Gegenüber, das Objekt der Begierde ist. Seine Freiheit wird als Konkurrent der eigenen Freiheit gesehen, Macht muss über ihn oder sie ausgeübt werden. Drittens führt die Begierde zu einer weiteren, tiefer führenden Freiheitseinschränkung und diese besteht darin, dass man sich der eigenen Situation unbewusst ist, nicht wahrhaben kann, dass man ein Sklave des begehrten Gegenstandes geworden ist.
Selbstisolierung
In „Flight“ wird Whip Whitaker von allen verlassen. Warum? Weil er sich immer mehr seiner Begierde hingibt. Er konnte nur noch das eine sehen. Alles drehte sich darum. Sein eingeengter Blick hatte keine Augen mehr für seine Frau, auch nicht für seine neue Freundin. Fokussiert war er schon: auf seine Flasche. Er wurde immer mehr in die Isolation getrieben. Die Tragik: Er selbst war der Antreiber. Der Weg zurück zur Gemeinschaft würde schwer sein. Aber er hat ihn an dem Tag eingeschlagen, an dem er sich selbst gegenüber ehrlich war, als er die mit der Begierde verbundene Lüge entlarvte und sie beim Namen nannte.
Bei der „Gemeinschaft“ steigern sich die Partner gegenseitig in der Liebe, sie beflügeln sich. Bei der Begierde tritt eine Gegendynamik ein. Immer tiefere Verletzungen treten auf, immer mehr grenzt man sich vom anderen ab, der äußerliche körperliche Kontakt wird immer mehr zur Quelle der inneren Entfremdung. Die Entfremdung geschieht aber nicht nur in Bezug auf die anderen Menschen, sondern eben auch in Bezug auf sich selbst. Nicht von heute auf morgen, aber doch. C. S. Lewis versuchte in seinem satirischen Werk „Dienstanweisung an einen Unterteufel“ diese Dynamik der Selbstentfremdung zu beschreiben. Screwtape, ein in Sachen Menschen-Verführen erfahrener alter Teufel, übersendet mittels eines Briefes seinem noch viele Fehler begehenden Neffen, Wormwood, diesen Ratschlag:
„Eine immer stärkere Begierde nach einem immer kleiner werdenden Vergnügen, heißt die Formel. […] Die Seele des Menschen zu gewinnen und ihm nichts dafür zu geben – das ist es, was dem Herzen… Freude macht.“
Suchtverdächtige Begierde lässt das ganz klar erkennen… Immer stärker wird die Sucht, immer weniger dafür gegeben. Immer mehr wird für immer weniger aufgegeben. Whip Whitaker verkörpert in „Flight“ die ganze Tragödie: Frau, Kind, Haus, Besitz, Ruf, Job, Freunde… alles verliert er, um das eine zu besitzen. Dabei wird er aber sogar seiner selbst entfremdet, weil er immer mehr das wird, was er begehrt. Es erfüllt immer mehr seinen ganzen Lebenshorizont, er wird von einem Nichts versklavt, sein Leben besitzt immer weniger Inhalt.
In den nächsten Blogbeitrag geht es um einen weiteren Aspekt der Begierde, sowie einen ersten Schritt Richtung was Johannes Paul II. nennen würde, „die Erlösung des Herzens“. Die Begierde hat nämlich nicht das letzte Wort über den Menschen und über die Liebe. Die Liebe verlangt danach, zu ihren eigentlichen Größe befreit zu werden.
Die Überlegungen dieses Beitrags entstammen etwas modifiziert und ergänzt aus dem von mir geschriebene Buch: „God, Sex & Soul“
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