Selbstfindung ist nicht Selbstreflexion
Egal, wo ich mich zu packen versuche, gänzlich werde ich das Geheimnis meines eigenen Selbst nie erfassen können. Und um nicht um den heißen Brei herumzureden: Nur Gott kennt meinen Namen wirklich, das heißt, die ganze Tiefe meines Daseins. Da hilft mir die Selbstreflexion herzlich wenig. So tief ich auch in mich selbst eindringe, mein Selbst werde ich dort nicht finden, denn der Mensch findet sich als Ganzes nur in der Beziehung. Gut, das scheint vielleicht sogar noch halbwegs klar zu sein. In der Liebe eines anderen entdecke ich mich selbst. Das Dilemma jeder menschlichen Beziehung aber ist ihre Begrenztheit, sie geht einfach nicht weit genug. Ein anderer Mensch – z.B. ein Freund oder meine Mutter – kann mich zwar bestätigen, aber diese Bestätigung auch wieder zurücknehmen – und wird es auch immer wieder tun. Kein anderer Mensch kann mir den Wert meines eigenen Selbst so bestätigen, wie ich es mir eigentlich wünschen würde. Und jeder Versuch, es zu tun, führt in die Frustration. Es frustriert erstens mich selbst, weil ich den Eindruck habe, einfach nie gut genug zu sein, und es frustriert andererseits den anderen, weil er oder sie immer den Eindruck haben wird, dass es mir nicht reicht, egal was er oder sie tut oder sagt. Deswegen ist es ja auch so gefährlich, den eigenen Selbstwert auf einen anderen Menschen zu bauen. Aber wo denn sonst? Ein Christ würde behaupten, dass die Entfremdung, die Einsamkeit, der Selbstverlust nicht das letzte Wort über den Menschen haben, sondern dass der Mensch sein Selbst letztlich voll und ganz nur dann finden wird, wenn er sich in Gott wiederfindet.
Sich anschauen lassen
Die Versuchung aber, die uns mit dem Bild von der Schlange und dem Apfel illustriert wird, besteht ja zuerst einmal darin, sich vor diesem Gott verstecken und das Glück selbst bestimmen zu wollen. Doch gerade so verkennt der Mensch sich selbst. Denn wenn Gott Liebe ist, dann versteckt man sich vor der Liebe, wenn man sich vor Gott versteckt. Nur dann, wenn der Mensch sich von demjenigen anschauen lässt, der ihn immer trägt, auch über den Tod hinaus, der zu ihm steht, auch wenn sonst niemand mehr zu ihm steht, nur wenn er sozusagen nackt vor ihm steht und sich lieben lässt, auch in seiner Schwäche, Begrenztheit und Unzulänglichkeit, nur dann beginnt er zu begreifen, wer er eigentlich wirklich ist: ein(e) Geliebte(r), um ihrer/seiner Selbst willen. Und eben nicht nur irgendwie geliebt.
Stell dir Paul vor, er ist 6 Jahre alt, kommt in die Küche seiner Mutter und…riecht die 42 soeben gebackenen Schoko-Cookies. Er schaut nach links und nach rechts, aber es ist niemand zu sehen. Er isst 2, dann 6, dann 18 Cookies. Nachher findet ihn seine Mama und blickt ihn fragend an: „Hast du die Cookies gegessen?“ Paul senkt den Blick … er kann in diesem Augenblick den Blick der Mama nicht erwidern. Genau dasselbe passierte mit Adam und Eva und Gott. Vor der Geschichte mit dem „Apfel“ waren sie nackt voreinander und vor ihm, weil es nichts zu verbergen gab, weil sie keine Angst haben mussten, dass Gott sie nicht mehr lieben oder annehmen würde, wenn er diese oder jene Unzulänglichkeit an ihnen bemerken würde. Aber nach dem Ergreifen des sogenannten Apfels war plötzlich alles anders. Weil sie selbst gierig geworden waren, mussten sie sich vor der Gier des anderen verstecken und begannen zu vermuten, dass es mit Gott gleich sein würde – nach dem Motto: wenn ich Angst haben muss, dass meine Eva oder mein Adam mich nicht mehr zur Gänze annehmen wird, sondern nur noch den Teil von mir will, den ihre Gier verlangt, dann kann es ja mit Gott nicht anders sein. Aber gerade dadurch versteht der Mensch nicht mehr, wer er ist. Er begreift nicht mehr, dass er um seiner selbst willen geliebt sein kann, sondern meint, er sei Objekt der Begierde. Er meint, er sei nicht liebenswürdig und nicht liebesfähig.
Wer sich in dem Moment, wo die eigene Schwäche zum Vorschein kommt, nicht anschauen lassen will, entfremdet sich immer mehr von sich selbst. Deswegen liebe ich die Beichte so, denn dort wird nicht weggeschaut, sondern dort schaut man Gott gleichsam direkt in die Augen, und zwar gerade in dem Moment, wo man seine eigene Fehlerhaftigkeit bekundet. Dort erfährt man Barmherzigkeit und den liebenden Blick dessen, der nicht verurteilt, sondern sogar so weit geht, dass er meinen Schuldschein an sein eigenes Kreuz heftet. Gott, dessen Eros für den Menschen so weit geht, dass er sogar die Auswirkungen meiner Sünde an seinem eigenen Leib spüren wollte, wie es Papst Benedikt einmal betonte. Der Wert des Menschen besteht darin, dass Gott nicht ohne ihn leben wollte, dass Gott eine Liebesgemeinschaft mit ihm eingehen will, für immer. Das ist ja die Botschaft von Ostersonntag. Gott scheitert nicht, auch nicht an dir.
Die Selbstfindung in den Augen Gottes
Im Spiegel der Augen Gottes beginnt man das eigene innere Geheimnis zu begreifen; nämlich, dass man selbst Gottes Abbild ist, dass man selbst Sein Geheimnis in sich trägt, das Geheimnis der sich schenkenden Liebe, die Gott selbst ist. Wie Johannes Paul II. einmal sagte: „der Mensch ist sich selbst ein Geheimnis, bis er die Liebe entdeckt.“ Er kann sich nicht begreifen, er ist sich selbst ein Rätsel, bis er erkennt, dass er von Gott unendlich bestätigt und geliebt ist, so sehr, dass dieser Gott anscheinend sein eigenes Leben als weniger wichtig anzusehen scheint als das des Menschen. Das ist die gewaltige Botschaft des Karfreitags, den wir vor ein paar Tagen gefeiert haben. Der Mensch also erfasst sich nur durch die Liebe, von Angesicht zu Angesicht mit dem, in dessen durchdringendem liebendem Blick er sich selbst zu entdecken beginnt. Dieser Blick erhebt, inspiriert und lässt den Menschen seine wahre Größe erkennen. Gott glaubt viel mehr an ihn als er das selbst tut. Es ist ein Blick, der den Menschen außerdem darin erinnert, dass er in sich selbst dieses Geheimnis Gottes trägt, selbst zur schenkenden Liebe zu werden und dass er sich selbst nicht nur findet, indem er sich lieben lässt, sondern indem er beginnt zu lieben wie Gott liebt: bedingungslos.
Es ist die Verheißung, dass die Schlange – die Verführung, auf die der Mensch sich eingelassen hat – nicht das letzte Wort haben wird. Die Tiefe seines Selbst zu entdecken, bleibt aber nicht nur eine Verheißung, eine Vertröstung auf eine Zeit „nach dem Tod“, sondern kann schon jetzt beginnen, indem man sich lieben lässt und selbst immer mehr ein Liebender wird. Wer liebt, findet sich.
Selbstfindung in der Gemeinschaft mit Gott
Niemand kennt seinen Namen, als Synonym für das eigene Wesen, in diesem Sinne wirklich voll und ganz. „Hannelore“, „Hans“ – das sagt man so einfach. Aber nehmen wir an, Hannelore und Hans wären zwei mir bekannte Menschen. Kann ich jemals die ganze Tiefe und Fülle dessen beschreiben, was sie sind? Kann ich wirklich sagen, ich kenne sie durch und durch? Interessant ist, dass sie nicht einmal selbst von sich sagen können, dass sie sich ganz und gar kennen. Die Verheißungen der Bibel, angefangen von der Genesis bis hin zur Geheimen Offenbarung (das letzte Buch der christlichen Bibel) deuten alle darauf hin, dass Selbstfindung nur durch eine Beziehung vermittelt werden kann, letztendlich durch eine Beziehung der Liebe mit Gott selbst. In der Geheimen Offenbarung findet man seinen eigenen Namen, indem man den Namen Gottes findet. Gott schreibt seinen eigenen Namen auf den Menschen, das heißt, der Mensch ist Abbild Gottes und im Finden des Abbildes findet der Mensch sich selbst: „Ich (Jesus Christus) werde auf ihn den Namen meines Gottes schreiben… und ich werde auf ihn auch meinen neuen Namen schreiben“ (Offb. 3,12). Man findet die eigene Identität, das eigene Selbst durch die Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus.
„Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ (1 Kor 13,12). Trotz der ganzen Tragik, dass der Mensch sich selbst aus dem Paradies ausschließt, kann man schon in der Genesis ein Wort der Hoffnung hören. „Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse“ (Gen 3,15).
Egoismus führt immer zu Selbstverlust, weil die tiefste Wahrheit des Selbst dadurch verkannt wird: Abbild der Liebe zu sein. Liebe aber hat immer mit Freiheit zu tun, daher findet sich der Mensch nur dann wirklich und wird ganz er selbst, wenn er einerseits die unendliche Liebe, die ihn umfängt und trägt, annimmt, und zweitens immer mehr seine tiefste Berufung lebt, nämlich Abbild der sich schenkenden Liebe zu sein.
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