„St Bartholomew, Exquisite Pain” (2006) ist eine zweieinhalb Meter hohe Bronzefigur von Damien Hirst. Im Frühjahr 2014 wurde sie im Rahmen der Ausstellung „Leiblichkeit & Sexualität“ in Wien präsentiert. Dargestellt wird der Apostel Bartholomäus, der gemäß der Legende bei lebendigem Leib gehäutet wurde. Seine Haut trägt er über seinem rechten Arm. in seinen Händen hält er eine Schere und ein Skalpell.

Sicherlich gibt es viele Auslegungen dieses Werkes. Für mich ist es ein geniales Bild für die Scham. „Als hätte mir jemand die Haut abgezogen. Jede Berührung tut dann einfach nur noch weh.“ Gleiches passiert mit uns bei der Scham. Aber was ist die Scham wirklich? Warum empfindet man Scham?

Nacktheit ohne Scham: Wenn man den Schlüssel zur Burg des Anderen besitzt.

Das biblische Buch Genesis stellt zwei Urzustände da: Nacktheit mit und Nacktheit ohne Scham. Die Scham, von der hier in Genesis die Rede ist, bezieht sich auf sexuelle Werte im Kontext des ein-Fleisch-Werdens, wo beide, Adam und Eva, keine Scham voreinander empfinden, obwohl sie nackt sind.

„Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.“ (Gen. 2,24-25)

Nach dem Ergreifen des „Apfels“, nach dem Eintreten und dem Nachgeben gegenüber der Begierde, erfahren beide die volle Wucht des Schamgefühls.

 „Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schutz.“ (Gen. 3,7)

Adam und Eva befinden sich im Garten, den man nicht nur, wohl aber auch als die Intimsphäre der Frau verstehen kann, in der sich ebenso der Mann befindet:

„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut“ (Hld. 4,12).

Beide leben in einem Zustand der physischen und psychischen „Nacktheit“: Ohne Grenzen, ohne Geheimnisse, ohne Masken. Gerade deswegen sind sie dem Anderen gegenüber so verletzlich.

Beide befinden sich nicht außerhalb der Mauer der Burg des Anderen, sondern innerhalb, sind dort zu Hause und besitzen selbst den Schlüssel zur Burg des Anderen.

Übrigens, deswegen finde ich „exquisite Pain“ so aussagekräftig. Das „ohne-Haut-sein“ zeigt die Verwundbarkeit noch dramatischer auf als die einfache Nacktheit. Die Haut ist noch irgendwie ein Schutz. In der Sexualität wird diese Schutzhaut wortwörtlich durchdrungen. Beide, Adam und Eva, erfreuen sich an den Früchten der vielen Bäume des Gartens: Stärke, Intelligenz, Schönheit, Anmut. Es gibt tausende von köstlichen Früchten und herrlichen Bäume:

„Ein Lustgarten sprosst aus dir… Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von den köstlichen Früchten… berauscht euch an der Liebe.“ (Hld. 4, 13.16 und 5.1)

Mit der Fixierung auf den einen Apfel kam die Versuchung.

Dann geraten sie in die Versuchung, sich nicht mehr aufs Ganze ihrer Situation zu fixieren, sondern nur noch auf den einen Baum, die eine Frucht. Statt sich beschenken zu lassen, beginnt der Mensch, beginnen beide – Mann und Frau – zu begehren, an sich reißen zu wollen. Sie sehen die Früchte nicht mehr als Geschenk, sondern als ein Anrecht an, das man an sich reißen kann, wann und wie man will. Sie beißen hinein, essen gemeinsam vom gleichen Baum, teilen dieselbe Begierde nach derselben Frucht. Das hat Folgen: Sie beginnen sich zu verstecken, vor Gott, vor sich selbst, vor dem Partner. Die Tragik wird in „exquisite Pain“ durch die Schere und das Skalpell dargestellt. Wie Hirst selbst sagt:

„Seine Entblößung und sein Schmerz hat er sich anscheinend selbst zugefügt. Wunderschön. aber tragisch.“

Selbstbestimmung & Scham

Scham hat immer mit dem Wunsch zu tun, etwas zu verbergen, was man nicht der Öffentlichkeit preisgeben will. Das zu Verbergende muss hierbei nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Ein Adam kann sich zum Beispiel schämen, wenn seine Eva vor versammelter Gesellschaft sagt, dass seine Krawatte falsch gebunden ist. Was Adam hieran „schlecht“ findet, ist nicht die Tatsache, dass er jetzt weiß, dass seine Krawatte verkehrt sitzt, sondern dass das, was vorher vielleicht noch niemandem oder nur wenigen aufgefallen war, jetzt an die Öffentlichkeit gekommen ist – wichtig hierbei: Es geschieht ohne seine Einwilligung. Er hätte es lieber geheim gehalten und dieser Widerspruch lässt Scham entstehen, weil sein Recht auf Selbstbestimmung umgangen wurde.

Nur ich darf über mich selbst bestimmen. Jeglicher Versuch der Bekanntmachung durch Andere wird zu Recht als Grenzüberschreitung empfunden. Somit deutet Scham auf ein Bewusstsein hin, das man ein Selbstbestimmungsrecht hat. Scham ist nicht einfach mit Angst gleichzusetzen. Denn Angst entsteht als Reaktion auf eine drohende Gefahr. Angst setzt aber kein Bewusstsein für das Selbstbestimmungsrecht voraus. Ein Tier kann Angst aber keine Scham empfinden.

Angst kann Scham begleiten, aber Angst verlangt kein reflektiertes Bewusstsein in Bezug auf das Recht der Selbstbestimmung und verlangt deswegen auch keine Innerlichkeit. Hier will Innerlichkeit auf den Ort der „Einsamkeit“ im Menschen hinweisen, wo Erkenntnisse gewonnen und freie Entscheidungen getroffen werden. Jeglicher Versuch von außen her Fremderkenntnisse, Empfindungen, Entscheidungen usw. aufzuerlegen gilt dann als klare Grenzüberschreitung. Die Innerlichkeit ist also Voraussetzung dafür, dass Scham überhaupt entstehen kann.

Liebe vs. Ausnutzen: Vom Ich zum Du & wieder zurück.

Wie aber ist jetzt das gegenseitige Sich-voreinander-Schämen von Adam und Eva zu verstehen? Sie verstecken sich ja nicht vor Anderen – die gibt es ja gar nicht. Um die Insel mit dem weißen Sandstrand vom Kapitel über die „Gemeinschaft“ in Erinnerung zu rufen: Sie sind allein auf der Insel. Wo ist das Problem? Warum können sie nicht mehr einfach nackt sein?

„Exquisite Pain“ kann hier helfen. Adam und Eva hatten sich gegenseitig entblößt. Nichts blieb mehr zu verstecken. Alles wurde gezeigt. Das Ausziehen der Haut deutet auf die radikale Verwundbarkeit hin. Und doch vermittelt das Gesicht des Bartholomäus Gelassenheit. Er „zeigt keinen Schmerz. So auch bei Adam und Eva. Es war kein Schmerz in ihren Gesichtern zu sehen, denn die Liebe zwischen ihnen wuchs immer mehr, in „Sorge um den Anderen und für den Anderen“.

Sie (die Liebe) will nicht mehr sich selbst – das Versinken in der Trunkenheit des Glücks –sie will das Gute für den Geliebten: Sie wird Verzicht, sie wird bereit zum Opfer, ja sie will es. (vgl. Benedikt XVI. in Deus caritas est)

Aber dieser aus Liebe gewollte, selbst bescherte Verzicht um des anderen Willen ist eben das: Selbst gewollt und Resultat einer freien Entscheidung. Die radikale Verwundbarkeit birgt aber zugleich das radikale Risiko des Ausnützens. Wo das geschieht, entsteht die Tragik: Die „Vergewaltigung der Unschuldigen“ ist gegenseitig und selbstverschuldet. Jetzt muss Scham genau das zudecken, was vorher Liebe aufgedeckt hat. Der entblößte Körper war Liebesausdruck. Jetzt steht er unter der ständigen Gefahr, ausgenutzt zu werden.

 

Dieser Beitrag gibt einige Ideen aus dem 9. Kapitel meines Buches „God, Sex & Soul“ ergänzt und überarbeitet wieder.

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