Weltfremd. Ideologieverdächtig. Fehlende Bodenhaftung. Wenigstens schien es mir so, als ich vor kurzem meine Meinung zu einem Blogartikel abgeben sollte. Eine Moralpredigt mit erhobenem Zeigefinger. Oh Gott! dachte ich mir, genau das brauchen wir heute nicht. Regeln um der Regeln willen. Freiheitseinschränkung. Selbstverwerfung. Genau dagegen reagieren Leute wie der provokatorische Filmemacher Ulrich Seidl. Zu Recht. Der Mensch wird in eine Regel hineingepresst und mit Gewalt darin festgehalten. Als wäre die Spezies Mensch wie ein Hund, der ständig an der Leine gehen muss. Als wäre seine Freiheit ein Unfall der Natur, etwas, was wie von einem Gefängniswächter kontrolliert gehört. Ich musste an das Zitat „Menschliche Reife ist Vollgebrauch des Geschenks der Freiheit“ von Johannes Paul II. denken. Wo Regeln um der Regeln willen befolgt werden, da gibt es keine Freiheit und deswegen auch keine Reife.

Eva, Regeln und der Chinese

Es gehört zur Würde des Menschen, zu begreifen, warum er etwas macht. Er muss es selbst wollen. Alles andere heißt Versklavung. Erziehung der Freiheit läuft immer über die Entwicklung der Fähigkeit ab, jene Werte zu entdecken, die hinter den zu treffenden Entscheidungen stehen. Zum Beispiel: Adam entscheidet sich, heute Abend zum Chinesen statt zum Wienerwald zu gehen, obwohl er viel lieber zum Wienerwald gehen würde. Jetzt scheint dies für ihn ein Verlust.  Wenn er es aber deswegen tut, weil er dadurch Eva, die wahnsinnig auf Chinesisch steht, eine Freude machen kann, dann ist seine Entscheidung nicht vordergründig gegen Wienerwald, sondern es ist vielmehr eine Entscheidung für Eva, die Liebe zu ihr, den Wert, der darin besteht, dass sie eine Freude hat. Er begreift, dass es sich lohnt, diesen Verlust des Schnitzels auf sich zu nehmen, sodass seine Eva Frühlingsrollen und gebratene Ente genießen kann. Das ist der Unterschied zwischen einer Ethik, die rein auf der äußeren Erfüllung der Gesetze beruht – Gesetze werden erfüllt, weil man Gesetze erfüllen muss – und einem Ethos, wodurch den Menschen keine Regeln äußerlich übergestülpt werden, sondern dieser Mensch sich selbst entscheidet, gewisse Werte zu leben – Werte, die er selbst erkannt und für die er sich entschieden hat. Das heißt Freiheit. Freiheit verlangt nach einer Motivation, die ihren Entscheidungen Tragfähigkeit verleiht. 

Jetzt steht es aber um uns so, dass in einer Welt, die im System des erhobenen Zeigefingers lebt, die Freiheit immer mehr verloren geht. Es wird den Menschen immer weniger zugetraut. Naja, schon gut, im Bereich der Technik ist das ganz anders. Ich werde von den Fähigkeiten meines Telefons laufend in Staunen versetzt. Aber das liegt daran, dass wir als Menschen auf den Kenntnissen früherer Generationen aufbauen können. Nur, mit der Kenntnis von Werten ist das anders. Die muss jede Generation und letztlich jeder Mensch, sich selbst neu aneignen und verinnerlichen. Und gerade in diesem Bereich des Menschlichen scheint man immer weniger an den Menschen zu glauben. Entweder weil ihm die Freiheit abgesprochen wird: Zeigefinger. Oder weil ihm die praktische Fähigkeit abgesprochen wird, überhaupt gewisse Werte, die über reine Bedürfnisbefriedigung hinausgehen, erkennen zu können: Hugh Hefner. Und in diesem Umfeld werden dann Leute wie ein C. S. Lewis als Provokateure oder Träumer hingestellt, wenn sie sagen:

Jede Krankheit, die sich der Heilung unterwirft, soll geheilt werden. Aber wir wollen Blau nicht Gelb nennen, um denen zu gefallen, die durchaus Gelbsucht haben wollen, noch wollen wir denen zuliebe, die Rosenduft nicht vertragen können, aus dem Garten der Welt einen Misthaufen machen.“ 

Sexualität, Regeln und Erlösung

Das In-Frage-Stellen der Lebbarkeit von erlöster Sexualität ist ein In-Frage-Stellen der Macht der Erlösung selbst, nach dem Motto: Gott hat uns erlöst, nur hat er dabei den Sex vergessen. Aber was soll das dann heißen, Erlösung des Herzens? Brauchen wir überhaupt eine Erlösung? Keine einfache Frage. Nicht einfach, weil das ganze Thema der Sexualität ja jeden Menschen so tief berührt. Es wird als so intim und mit dem eigenen „Ich“ verwoben empfunden, dass jegliches Herantasten an das Thema von außen sehr persönlich genommen werden und sehr schnell verletzend sein kann. Weil der eigene Erfahrungsschatz in diesem Bereich solch tiefe Spuren im Herzen hinterlässt, kann sich ein unüberlegter Kommentar zum Thema auswirken wie ein Elefant im Porzellanladen. Aber das soll ja genau der springende Punkt sein: Der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Herzgefühls. Wie das Zitat am Ende dieses Beitrages in Erinnerung rufen will: Die tiefen Sehnsüchte des Herzens, die sind genau richtig! Trotz aller Verwundungen und Verletzungen und äußeren oder inneren Schwierigkeiten lohnt es sich, dem Herz zu folgen. Vielleicht wurde viel zerbrochen, vielleicht ist nicht immer alles so gelaufen, wie man es wollte, vielleicht hat man ein wenig das Vertrauen in andere oder in sich selbst verloren. Aber heißt das wirklich, dass man sich jetzt damit zufriedengeben muss?

Es geht um das Vertrauen auf den Menschen. Das Vertrauen, dass es nicht die Schwäche ist, die den Menschen ausmacht, sondern dass der Mensch ein „Recht auf die eigene Größe hat“. Das Vertrauen auf das eigene Herz, das Vertrauen, dass ganz tief im Menschen nicht nur das Chaos und der Hang zum Verdrehten und auch nicht nur der Hang zum halb Guten sitzen. Vielmehr will die „Erlösung des Herzens“ aussagen: Die Sehnsucht nach der Liebe und nach Liebe und Leben in Fülle ist kein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen, sondern: Die tiefsten Sehnsüchte des Herzens stimmen, sie sind nicht zum Scheitern verurteilt, sie können erfüllt werden. Die Erlösung des Herzens ist eine Reise ins Innere. Ja, das Herz kann verwundet sein. Ja, der Hang dazu, die Liebe in Egoismus zu verwandeln, ist allgegenwärtig und immer wieder eine Versuchung, die den Menschen zutiefst betrifft. Aber die Wunden sind nicht alles, sondern deuten vielmehr darauf hin, dass dieser Zustand kein Normalzustand ist. „Erlösung“ ist Erlösung von etwas. Erlösung bedeutet nicht nur die tiefen Wunden des Herzens zu entdecken, und auch nicht nur diese Wunden zu heilen. Es geht um den Glauben an die Macht der Liebe, darum, dass man allen Mut machen will, allen, die dem Menschen nicht mehr die Möglichkeit der inneren Freiheit und die „Freiheit des Geschenks“ zutrauen, die sich nicht mehr vorstellen können, dass es dem Menschen möglich ist, sich frei zu schenken, ohne dazu von innen oder von außen gezwungen zu werden – nicht von den Erwartungshaltungen des anderen, nicht von den eigenen Hormonen, nicht von der Sucht nach Bestätigung oder von sonst etwas oder jemand… WIE soll das aber praktische gehen? Darum geht es in den folgenden Theologie des Leibes Beiträgen.

 „Wir können das Herz nicht kontinuierlich unter Verdacht stellen…Die Erlösung ist eine Wahrheit, eine Wirklichkeit, von der sich der Mensch angesprochen und berufen fühlen muss, und zwar auf wirksame Weise.“ – Johannes Paul II.


Dieser Beitrag gibt einige Ideen aus dem 7. Kapitel meines Buches „God, Sex & Soul“ ergänzt und überarbeitet wieder.

Titelfoto: Pixabay