Zur Eröffnung des Wintersemesters 2015-16

 

Ein neues Semester verspricht viel. Zu Beginn einer neuen Zeit befindet man sich immer in einer schwungvollen Begeisterung, man fühlt sich wie von einem neuen Elan getragen. Das ist das Wunder des Neuanfangs. Auch wenn dieser Frohsinn nicht lange währt, bei manchen “alten Hasen” ist er sogar kaum noch zu spüren, öffnet sich da in diesen Wochen doch eine Zeitspanne, in der die Chance für viele sich darbietet, gleich einen neuen Rythmus zu finden und somit das ganze Semester in den Griff zu bekommen. Eine Chance kann man bedauerlicherweise aber auch…versäumen, auf zwar auf bittere Weise. Es wäre also jetzt höchste Zeit, von einer Orientierung zu sprechen.

Was ist eine Orientierung? Ist es nicht spielverderbend, geich jetzt, wenn man die neuen Gesichter noch nicht einmal kennegelernt und die fiebrige Spannung bei den neuen Stoffen noch nicht erfahren hat, und schon von den Prüfungen im nächsten Februar reden zu wollen? In gewisser Weise ist es vielleicht doch spielverderbend. Dennoch ist es besser, – und dies ist bei allen wohlbekannt – sich jetzt einer Disziplin zu unterwerfen, um mit dem Studium ans Ziel zu gelangen, als jeden Tag sich einer völlig zügellosen Freude hinzugeben und am Ende doch zu scheitern. Eine Orientierung bedeutet also diesen Blick auf das Ziel zu bewahren, sich davon nicht ablenken zu lassen und den Kurs dorthin nicht mitten im Weg zu verlassen. Dieses Prinzip ist eigentlich von allen bekannt, und wenn man versucht, über dieses Thema auf unpersönliche Weise zu sprechen, kommt es einem etwas albern vor, als ob man schon wieder eine neue Belehrung anstellen wollte. Wer weiß es dann schon nicht, dass immer vorsichtig herangegangen werden muss, dass es nicht unbedingt ratsam ist, öfter als einmal pro Woche eine Party zu schmeißen, und bla bla bla…?

Das Ziel in der Zeit

Der oben erwähnte Kurs, der zum Ziel hinführt, ist aber deswegen schwierig zu befahren, weil er nicht im Raum, sondern in der Zeit liegt. Ganz besonders schwer zeigt sich aber der Weg des Philosophiestudiums. Selbstverständlich ist es nicht die Absicht des Verfassers, die Neuanfänger in diesem Fach zu entmutigen, ganz im Gegenteil. Lässt sich nicht in dieser Herausforderung das Besondere von der Philosophie im Vergleich zu den anderen Fächern, der (heutigen) Theologie inklusiv, erblicken? Ist es nicht merkwürdig, dass der Abschluss dieses Faches zu keinem echten Beruf hinführt? Wenn das Ziel einer Ausbildung eine Art “Sitz im Leben” in der Praxis hat, muss sich der Studierende nicht allzu viele Gedanken darüber machen, wohin es dann mit seinem Abschluss sein wird. Da die Philosophie aber offenbar das ganze Leben in Frage stellt, kann man unseren jungen Philosophen – jenes Sinnbild dieses Blogs – nirgends anstellen. Wo kann er dann arbeiten? Es ist nicht völlig falsch, und schon gar nicht boshaft, was man in den bekannten Witzen über Philosophen erzählt: Bei den Medizinern geht es um Gesundheit, der Philosoph fragt: Was ist Gesundheit? Bei den Ökonomen geht es um Profit, der Philosoph fragt: Was ist Profit? Sogar bei Politikern und Juristen, wo es um Menschenrechten geht, kann sich der Philosoph doch nicht zurückhalten und muss fragen: Was ist der Mensch? Und es gibt noch tausend andere Fragen, die er stellt, scheinbar um seine Umgebung ab und an mal einen Nervenkitzel zu verpassen.

Wohin dann also mit dem Philosophiestudium? Was ist das Ziel dieses Faches, das in der Gesellschaft nicht durch einen institutionellen Rahmen grundgelegt ist? Die Menschen haben Bedürfnisse und die gesellschaftlichen Institutionen werden eingerichtet, um das gemeinschaftliche Leben in seinem ganzen komplexen Gefüge von Bedürfnissen und Befriedigungen irgendwie zu ermöglichen. Die natürlichen Gaben des Menschen, die zur Befriedigung eines sichtbaren Bedürfnisses, werden gefördert und es lässt sich im Laufe der Entwicklung der abendländischen Zivilisation beobachten, wie die Wege der heutigen Institutionen gezeichnet worden sind. Wie ist alles so geworden, dass wir heute in dieser durchgehend institutionalisierten Gesellschaft leben? Diese Frage richtet sich nicht gegen den institutionellen Charakter der heutigen Gesellschaft, insbesondere im abendländischen Kulturraum, und lässt sich nicht wegen Vorurteile oder besonderer Empfindungen verbieten. Nach der Natur von Institution und Staat zu fragen kann ja nicht von vornherein mit einem Anarchismusverdacht abgestellt werden. Gerade dort, wo Diskussionen mit politischen Ausrichtungen mit konsequenter Ablehnungshaltung gegenüber der Staatlichkeit als geistigem Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens, geführt werden, muss ja mit um so größerer Sorgfalt nach dem Ursprung und dem Werden des Staates gefragt werden, um die anarchistischen Elemente aufzuklären. Also noch einmal: Wie ist alles so geworden, dass die Philosophen durch alle Zeiten hindurch scheinbar zu einem mittellosen Poetentum verurteilt werden?

Am Anfang (nun, was ist der Anfang?!) war alles nur eine schöne, natürliche Neigung im Geist des Menschen. Der eine kann zählen und liebt die Zahlen, der andere findet Freude bei den Erkundungen von Kräutern und Tieren des Feldes, etc. Niemand wußte, wozu mit dem sonderbaren Interesse, denn die meisten beschäftigten sich natürlich mit dem Überleben in der harten Natur. Auf wundersame Weise wurde das Wissen aufgesammelt, man verfasste Schriften und die Schriften wurden aufbewahrt und weitergegeben. Die langen Jahrhunderte schritten voran und schauten zu, wie die Menschen mühsam gegen Pesten, Seuchen und Hungersnot ankämpften und doch Zeit und Kraft hatten, sich gegenseitig gnadenlos zu bekriegen. Aber es gab nicht nur Kriege. Kathedralen und andere Bauwerke wurden errichtet. Als die Universitäten entstanden sind, da wurde die Gestalt der abendländischen Kultur langsam vervollständigt, und die Basis für eine kontinuierliche Entwicklung war hergestellt. Da sehen wir auch, wie jene natürlichen geistigen Neigungen institutionalisiert wurden: Es gab nicht mehr die bloßen Zahlenliebhaber, sondern diejenigen, die rechnen und Vermessungen vornehmen konnten, sind nun Mathematiker und Brückenbauer geworden. Und gerade nicht zuletzt wurden sie in Bankhäusern gebraucht. Die Regierenden aller Stufen waren darauf angewiesen, dass sie in ihren Hofen viele Meister hatten: Zahlmeister, Waffenmeister, Ingenieure, und natürlich auch Priester, Musiker und auch: die Gelehrten. Die Talente wurden also gefördert. Es war ein langer Weg, bis diese Förderung sich zu einer allumfassenden, ja beinahe lückenlosen, unaussprechlich minutiös geordneten, durch und durch strukturierten Verwaltung von Qualifikationen und Abschlüssen entwickelt hat. Die heutige Gesellschaft ist ja das Ergebnis dieses langen Werdens. Nicht, dass die natürlichen geistigen Neigungen nicht mehr existieren, sie sind nur geändert, geordnet, institutionalisiert, und zwar industrialisiert und technologisiert worden. Heutzutage wählt man, beispielsweise, das Studienfach Chemie, nicht vordergründig um die Elemente in der Natur einfach nach Herzenslust zu erforschen, sondern um sich eine helle Zukunft in einem Weltkonzern oder in nahmhaften Forschungsinstituten vorzubereiten. Und was erforscht man dort? Sicherlich auch die Natur, was sonst? Aber eine Natur, die auch einen klaren finanziellen Wert beinhaltet und obendrein umweltfreundlich sein muss. Nachdem die Gesellschaft aufgeklärt wurde, wird jetzt auch die Natur aufgeklärt. In der Gesellschaft wird es so detailliert geordnet und strukturiert, bis der Begriff “Datenschutz” heute zu einem der größten Themen geworden ist, so wie auch in der Natur, wo kaum noch etwas unerforscht bleiben darf, sodass der Begriff “Umweltschutz” unweigerlich entsteht.

Lasst uns in der Vielfalt der Wege im heutigen Leben aber nicht verirren. Wir wollten diese Betrachtung nur anstellen, um eine Orientierung im Studium der Philosophie herauszufinden. Alle Studienfächer, die eine Ausbildung zu einem konkreten Dienst in der Gesellschaft anbieten, werden in der Gesellschaft auch institutionalisiert, sodass der Ausgebildete mit seinem Abschluss imstande ist, den entsprechenden Beruf auszuüben. Die Philosophie dient aber offensichtlich keinem konkreten Dienst in der Gesellschaft, deswegen kann sie auch nicht im Rahmen einer Berufsqualifizierung eingeordnet werden. Fakt ist, dass ein Abschluss in diesem Fach keine Berufsqualifizierung aufweist, sondern nur einen akademischen Grad darstellt. Wo also ist der Sitz im Leben der Philosophie und somit des Absolventen dieses Faches? Wir können nicht sagen, dass alle, die Philosophie studieren, eine Lehrtätigkeit annehmen müssen. Erstens ist dies praktisch nicht möglich, zweitens ist das Philosophieren selbst nicht institutionalisiert werden kann, wie dargelegt wurde.

Oder soll jeder, der Philosophie treibt, auch ein erfolgreicher Buchautor werden? Dies scheint auch keine realistische Lösung zu sein, denn nicht jeder, der denkt, verfügt über eine solche Massentauglichkeit, sodass er das Produkt seines Denkens überall und massenweise verkaufen kann. Würde man dann schließlich sagen, dass unser junge Philosoph nach seinem Studium etwas anderes machen müsste? Sollte er noch neben der Philosophie etwas studieren? Pädagogik, Theologie, etc., oder gerade auch Mathematik und vor allen Dingen Statistik oder Informatik? Aber kann ein Philosoph es hinnehmen, dass er sein Brot durch etwas anderes als durch sein Denken verdient? Ein Denker kann ja auch eine Art “Nebenbeschäftigung” ausüben, z.B. Gehilfe in einer Institution sein, etc., doch wir wissen, dass dies nicht die Erfüllung seiner Berufung ist. Dies ist bis zu einem gewissen Grad vergleichbar mit einem Musiker: Ein Musiker macht Musik nicht (nur) in seiner Freizeit, sondern hauptsächlich. Sein Brotverdienst kann nicht von seiner Musik getrennt werden.

Muss also nun die Gesellschaft einspringen und den Philosophen in ihren Nöten beistehen? Das ist ebenso auszuschließen, denn ein Angebot von Hilfe kann erst recht nicht verrechtlicht werden. Sind also Philosophen allesamt Taugenichtse? Dies trifft nicht überall zu und es ist seit Anbeginn des freien Denkens nicht zu registrieren, dass jemals das Wort “Philosoph” als Spott verwendet wurde.

Was hat es also letzten Endes mit dem Philosophie auf sich? Wo ist das Ziel dieses Studiums, wie eingangs gefragt wurde?

Freiheit!

Angesichts der Aussichtslosigkeit der Lage klingt das Wort “Freiheit” jetzt nicht wie eine romantische Parole, und auch nicht laut und frech, sondern gerade schüchtern, aber nicht eingeschüchtert, und ernst. Wenn es einen Ort in der heutigen Gesellschaft gibt, wo es sichtbar wird, dass der Mensch eine freie Wahl treffen kann, dann ist das das Studium der Philosophie. In der Tat gibt es etwas Geheimnisvolles im Vollzug dieser Wahl, sodass man sagen könnte, die jungen Philosophen lassen sich nicht durch eine Kalkulation der zukünftigen Berufschancen leiten, mit denen sie mit einer Lebensperspektive voller Sicherheiten rechnen könnten, sondern sie folgen allen Ernstes einem inneren Ruf. Damit habe ich nicht gesagt, dass die Wahl zu allen anderen Ausbildungen und die damit verbundenen Werdegängen nicht frei, oder nur kleinlich durchkalkuliert wären. Dennoch zeigt sich in der Tatsache, dass die Entscheidung zur Philosophie durch keine Perspektive nach dem Studium abgesichert ist, etwas Anderes. Dieses Studium ist zwar auch institutionalisiert, denn man kann sich ja einschreiben für das Fach und das Studienprogramm wird ja auch bis zum Abschluss durchorganisiert. Doch die Institutionalisierung ist nicht vollständig. Was wird dann aus diesem Studium? Das bleibt offen. Und die Institution verbürgt sich mit Recht nicht für eine Antwort.

Wo ist dann eine Antwort zu suchen und zu finden? Offenbar in dem Anders-Sein dieses Faches selbst. Die Andersheit besteht nicht in der Perspektivlosigkeit des Studiums, sondern in dem großen Wagnis, sich gegen eine Art Vernunft und Klugheit zu entscheiden, die alles im Voraus bis zum letzten Detail durchzuplanen beabsichtigt. Aber diese Entscheidung ist auch nicht eine überstürzte Reaktion gegen eine faule Bequemlichkeit, und sie ist auch nicht ein Dahintreiben, ein Vorwand, um die eigene faule Realität zu verbergen, dass man zu nichts willig und fähig ist. Wodurch kann eine solche Entscheidung noch motiviert werden? Wenn alle vorstellbaren Gründe nicht auf irgendeine vorgegebene Instanz zurückzuführen sind, auch nicht auf das Selbst – in dem Fall hätte man gewußt, wie diese Entscheidung selbsthaft zu ergründen wäre, aber da eine solche selbsthafte Ausdeutung immer in einem Kontext verankert ist, hätte man wiederum gar nicht ergründet -, dann kann das Motiv nur von einem Anderen verursacht werden. (Man merke an, dass die dargelegte Aussage in der formalen Ebene dem Gottesbeweis Descartes’ in der 5. Meditation ähnelt, ohne denselben Zweck zu verfolgen.) Deswegen kann auch nur der, der den Ruf schenkt, die letzte Antwort zur Gestaltung dieser Berufung geben. Es ist Freiheit, diesem Ruf zu folgen, und es ist Mut, ein Stück vom eigenen Leben als freien Raum für den Rufenden zur Verfügung zu stellen.

Wenn man das Ziel des Philosophiestudiums auf diese Weise betrachtet, lässt sich die Überlegung im Einklang mit einem Wort des Hl. Augustinus schließen: Noli foras ire in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas. (De vera religione 72)

Allen Lesern dieses Blogs von mir und P. George, die in diesem WS mit dem Philosophiestudium beginnen, wünsche ich von Herzen viel Freude und viel Erfolg!

 

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