Scham und Aggression
„Ohne Scham seine Nacktheit auszubreiten, ist eine Art von Aggression. Denn die
Schönheit des Nackten verursacht nicht mehr eine selbstlose Bewunderung, ein
kontemplatives Entzücken wie im Paradies, sondern sie regt zum Konsum an. Sie
provoziert die Kopulation. Die Nacktheit ist zutiefst mit der Liebe verbunden. Wenn die
wahre Liebe auch die Nacktheit erfordert, so bewahrt sie sich die Nacktheit gerade
deshalb ganz für sich selbst auf. Man zieht sich zurück, um sich zu vereinigen.“
Mmmm. Das hat es auf den Punkt gebracht, dachte ich mir, als ich das heute morgen in Daniel Ange, „Dein Leib geschaffen für die Liebe“ las. In diesen Tagen geht einem nämlich viel durch den Kopf. Da gibt es zum einen die Anschläge in Paris und die Sorge und die Angst vieler vor der anscheinend immer näher an die eigene Haustür rückenden Gewalt und Aggression. Dann finde ich auf dem Titelblatt der Tageszeitung „Die Presse“ heute morgen: „Adoptionsrecht für Homosexuelle“. Der Tenor des Leitartikels dort ist die Tendenz der Politik, keine Verantwortung übernehmen zu wollen oder vielleicht anders: dass die Regierung ihre Verantwortung über Entscheidungsbefugnisse bezüglich gewisser hochsensibler Gesellschaftsthemen an die Gerichte abtritt. Gut, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Aber vielleicht irgendwie doch? Ich las weiter:
Bis dahin sah der Mann der Frau in die Augen. Sie ihrerseits spiegelte sich in den
Augen ihres Mannes. Beide wurden durch den Widerschein der trinitarischen Liebe noch schöner. Die Fenster, die sie einander in ihrer Intimität öffneten…öffneten sie beide zugleich auf
Gott hin. Dann …der Abfall…Die Frau hat wahrscheinlich als erstes bemerkt, dass die
Augen des Mannes nicht mehr in ihr Gesicht schauten. Sie waren hinunter gewandert. Sie
wurden aggressiv und gefräßig nach Sexualität, nach ihrer Sexualität. Sie wurden gierig,
wie man gierig nach einer Frucht oder einer Auster wird. Wie man gierig nach einem
Objekt wird. Die Frau hat sich erniedrigt gefühlt durch die Lust, die man auf sie hatte….“
Aggression und Freiheit
Ok. Der Reihe nach. Verantwortung setzt immer die Freiheit voraus. Der, der nicht frei ist, kann für seine Taten auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ein Stein wird nicht auf Schadenersatz verklagt, wenn er auf ein Auto fällt, der Steinwerfer hingegen schon. Liebe hat immer mit Freiheit zu tun, erzwungene Liebe ist überhaupt keine. Je stärker aber die Gier ins Spiel kommt, desto geringer wird die Freiheit. Die Schlussfolgerung? Gier hat mit Liebe nichts zu tun, ist dessen Gegenteil. Liebe lässt selbstlos gewähren. Gier konsumiert, ja muss konsumieren. Und weil dem so ist, treten sehr schnell Verletzungen auf, wo Gier vorhanden ist. Warum? Weil die Freiheit des anderen nicht mehr respektiert wird, weil Grenzen überschritten werden, weil das, worauf die Gier aus ist, nicht der andere als Person, der Geliebte, ist, sondern das, was er zu geben hat. Bei der Gier geht es nicht mehr um die Bewunderung des „Du“, sondern um die Sättigung der eigenen Begierde. Das kommt dem schon sehr nahe, was im „Duden“ als Aggression definiert wird: „durch Affekte ausgelöstes, auf Angriff ausgerichtetes Verhalten des Menschen, das auf einen Machtzuwachs des Angreifers bzw. eine Machtverminderung des Angegriffenen zielt.“ Die Freiheit des anderen wird unterdrückt, sodass ich bekomme oder das geschieht, was ich will.
Soweit so gut, aber wo bitte besteht jetzt ein Zusammenhang zwischen einer Beziehung, die von Begierde gekennzeichnet ist, einem Politiker, der keine Verantwortung übernehmen möchte und einem Terrorist, der von Ideologie getrieben wird? Na ja, erstmal überhaupt keiner. Also, um das ganz klar zu machen, ich will diese drei unterschiedlichen Fehlverhalten natürlich nicht in denselben Topf schmeißen. Ein europäischer Durchschnittspolitiker will kein Terrorist sein, ganz im Gegenteil. Ein Durchschnittsbeziehungsmensch, der immer wieder auch einmal von seiner Begierde getrieben wird, will das natürlich auch nicht. Dennoch, auch wenn das klar gesagt und doppelt unterstrichen sein soll, will ich doch auf eines hinweisen: in allen drei Fehlverhalten ist derselbe Wurm drin. Er hat nur unterschiedliche Namen und Ausprägungen.
Aggression und Liebe
Gemeinsam ist allen drei Verhaltensmustern ein mehr oder weniger bewusster Wunsch danach, aus dem Dreieck Liebe – Freiheit – Verantwortung ausbrechen zu wollen. Wo aber einer dieser Werte verletzt wird, sind früher oder später unweigerlich auch die anderen mitbetroffen. Der Politiker meidet die Verantwortung und trägt dadurch bei zum Verlust von Freiheit und zur Ausbreitung von Egoismus in der Gesellschaft. Der Beziehungsegoist verliert die Liebe als Basis und wird daher aggressiv, zerstört Freiheit und will schon gar keine Verantwortung für den anderen übernehmen. Der von Ideologie fanatisierte Terrorist will seine Ziele herbeizwingen und verliert dadurch seine Menschlichkeit und jeglichen Bezug zur Vernunft, zu einem verantwortlichen Umgang mit der Welt, mit Gott und mit sich selbst.
Die Liebe, um die es Daniel Ange in seinem Buch geht, ist ganz anders. Sie will gar nichts erzwingen. Sie ist der Inbegriff von Respekt und Wertschätzung. Sie stellt niemanden an den Pranger. Ganz im Gegenteil. Deswegen finde ich die oben zitierte Idee so großartig: „man zieht sich zurück, um sich zu vereinigen“. Man muss nicht alles herzeigen, um Wertschätzung und Anerkennung zu erzwingen. Man muss nicht versuchen, die Situation und noch weniger den anderen zu kontrollieren oder zu manipulieren, indem man sich selbst oder seine Meinung dem anderen aufdrängt. Und doch geschieht zugleich auch gerade dies, aus einem großen Verantwortungsbewusstsein heraus: weil ich liebe, treffe ich Entscheidungen, die die Beziehung und den anderen schützen. Den Liebenden geht es nämlich nicht um Genussoptimierung, sondern um den anderen. Ebenso sollte es einem Politiker nicht um seine politische Karriere gehen, sondern um den Menschen, in dessen Dienst er sich gestellt hat.