Manipulation ist eine Option, die der wahrhaft Nackte nicht kennt. Dort, wo Nacktheit authentisch gelebt wird, fördert sie reife Liebe. Das ist das, worum dieser letzte Blogbeitrag zum Thema Nacktheit geht.
Manipulation und Kontrollverlust
Man steht nicht vor, sondern hinter der Mauer. Der Körper wird dargestellt, wie er wirklich ist. Er wird nicht verschönert, aber auch nicht verschlechtert. Man verzichtet auf die Möglichkeit, sich zu einem späteren Zeitpunkt noch weiter zu öffnen. Man hat mit der Nacktheit eine Grenze erreicht, über die man nicht mehr hinausgehen kann. Mehr zeigen kann man nicht. Es gibt keine Karten mehr, die man noch ausspielen könnte, wenn es notwendig werden sollte. Man hat kein Geld mehr in der Börse, mit dem man den anderen zum Zusammenbleiben erpressen könnte. Man hat nichts mehr zu geben. Das heißt, man lässt die Zügel fallen, mit deren Hilfe man versuchen könnte, die Beziehung noch zu kontrollieren. Das heißt, man hat freiwillig die Kontrolle verloren und sich dem anderen anvertraut. Eva weiß ja nicht, wie Adam reagieren wird, ob er, nachdem er jetzt aber auch alles gesehen hat, was Eva ihm zeigen konnte, sie noch so annehmen wird, wie sie wirklich ist. Das sagt die Körpersprache aus. Ob man das auch wirklich meint, ob die äußere Nacktheit auch die Vergegenwärtigung der an einer Grenze angelangten Entblößung des Herzens ist, wo es keine Geheimnisse mehr gibt, sondern radikale Offenheit, das ist natürlich eine andere Frage und sicherlich immer wieder eine Herausforderung. Nur – die Aussage des Körpers steht. Das ist es, was Eva Adam und Adam Eva mittels ihres Körpers sagen. Genauso kann Adams Blume für Eva auch eine wahre oder eine trügerische Aussage beinhalten. Die Aussage steht aber jedenfalls im Raum. Mit welchem Inhalt man sie füllt, bleibt der eigenen Entscheidung überlassen.
In Wirtschaft und Politik gilt: Information ist Macht. Wenn einer weiß, dass der Obmann der gegnerischen Partei seine Doktorarbeit abgeschrieben hat, dann kann diese Information zu gegebener Zeit gegen den Obmann benutzt werden, man könnte sogar versuchen, ihn zu erpressen. Freigabe von Information heißt, die Kontrolle über diese Information zu verlieren. Man weiß eben nicht, wie der andere mit dieser Information umgehen wird. Die Sprache der Nacktheit ist deswegen so aussagekräftig, weil es nicht um eine, sondern um die gesamte Information geht. Man hat dem anderen nichts mehr zu zeigen. Man verliert nicht über einen Teilbereich des eigenen Lebens die völlige Kontrolle, sondern über den Gesamtbereich, weil es überhaupt keine Geheimnisse mehr gibt. Adam sagt zu Eva: Es gibt nichts in mir, das ich nicht mit dir teile.
Der Wahnsinn dabei ist, dass es bei der Adam-und-Eva-Erzählung nicht nur um eine äußere Information geht, sondern eben auch um etwas so Intimes und Innerliches, dass ein verkehrter Gebrauch dieses Gezeigten als Missbrauch des eigenen Ichs empfunden wird. Das heißt, je intimer und innerlicher die Information, desto größer das Risiko. Aber das ist es ja, was das Herz so erobert, wenn zum Beispiel Eva merkt, dass Adam sich ihr völlig ausliefert, dass ihr voll bewusst ist, dass er in diesem Moment extrem verwundbar ist, dass sie ihn unglaublich verletzten könnte und dass zugleich sie, Eva, ihm dieses Risiko wert ist.
Kontrollverlust heißt in diesem Fall aber nicht, dass man das Bestimmungsrecht über sich selbst verloren hat, dass man nicht mehr Herr seiner selbst und seiner Taten ist. Was es aber sehr wohl heißt, ist, dass eine Eva dem Intimsten und Wertvollsten, das sie hat, eine Bestimmung geben könnte, die Adam selbst nicht will. Ein Vergleich: Sollte jemand meine Mutter schlagen, dann würde ich das als eine Verletzung meiner selbst empfinden. Es würde mich sehr aufregen, weil ich sie liebe, mich mit ihr identifiziere… ein wenig so wie der Satz von Jesus von Nazareth: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 40). Jetzt ist es aber so, dass die Werte, die mit der eigenen Sexualität (mit mir konkret als dieser Mann, oder diese Frau, die ich bin) zu tun haben, so mit mir selbst, meiner Identität, mit dem eigenen Ich verwoben sind, dass eine Verletzung dieser Werte als Verletzung des eigenen Ichs empfunden wird. Eigentlich kann man das eigene Selbst und die eigenen sexuellen Werte gar nicht trennen. Deswegen wird das Preisgeben von Information über die eigene Sexualität, das wirklich gemeinte und von Herzen kommende Herzeigen von Körperteilen, die mit der eigenen Sexualität zu tun haben, als ein Preisgeben vom eigenen Selbst empfunden. Das heißt, die Entkleidung des Körpers ist mehr als eine Entkleidung des Körpers. Gerade dadurch wird das eigene Ich entkleidet, preisgegeben, angeboten, hergegeben. Man lässt den anderen heran an das, was am intimsten ist, die eigene Freiheit, das eigene Entscheidungsrecht, und lässt den anderen sozusagen mitreden, mitentscheiden, was jetzt mit dem eigenen Ich passieren wird. Kontrollverlust – wobei man sich voll bewusst ist, was das heißt und was eigentlich auf dem Spiel steht, wie hoch das Risiko ist. Und da man es begriffen hat, entscheidet man sich dafür. Liebe eben.
Manipulation und sich verwundbar machen
Die Nacktheit ermöglicht den Einlass des anderen in die eigene Intimsphäre. Da kommt keiner hin, wenn man nur die Hand schüttelt. Die Intimsphäre ist dort, wo man „zu Hause“ ist, wo man absteigt, wo man alleine mit sich selbst ist, wo man erkennt, was man tut, und sich frei entscheidet. Es ist einfach der Sitz des eigenen „Ichs“: Niemand kann für einen selbst fühlen, denken, entscheiden. Jeglicher Versuch, jemanden zu zwingen, etwas zu spüren, zu denken oder zu entscheiden, wäre eine Grenzüberschreitung. Jetzt spüren aber Adam und auch Eva, dass die eigene Sexualität als Mann und Frau so sehr mit dem eigenen „Ich“ verwoben ist, dass allein das „Anschauen“ ohne Erlaubnis schon als Grenzüberschreitung empfunden wird. Bei der nackten Berührung des Einswerdens geht es aber noch viel weiter. Denn man wird nicht nur angeschaut, sondern das Verfügungsrecht wird gewissermaßen dem anderen übergeben.
„Wir teilen unsere Bestimmung, ich erlaube dir, mit mir gemeinsam das zu bestimmen, was mit dem passiert, was mir am innigsten ist, das eigene Frausein, das eigene Mannsein. Außerdem bin ich nicht mehr einfach für mich selber da, ich bin da, um dich glücklich zu machen, um einen gemeinsamen Weg mit dir zu gehen, dir mich radikal und ganz – und eben keinem anderen Mann, keiner anderen Frau – zur Verfügung zu stellen. Ich lasse zu und ich will es sogar, dass der andere meine Freiheit bindet, um gewisse Möglichkeiten, die mir vorher noch zu Verfügung standen, will ich mich selbst beschneiden.“
Wenn aber nur einer von beiden das wirklich meint, dann macht der andere (oder beide, wenn keiner der beiden es ernst gemeint hat) früher oder später die Erfahrung, angelogen worden zu sein, dass die Körpersprache also gar nicht das war, was sie zum Ausdruck zu bringen schien. Statt Selbsterkenntnis zu ermöglichen, wird dadurch Selbsterkenntnis verhindert. Wo Nacktheit wirklich nackt ist, dort erfährt man: Ich bin nicht ein Gebrauchsgegenstand, sondern geliebt, angenommen um meiner selbst willen. Wo sie nicht wirklich nackt ist, dort erfährt man: Ich bin ein guter Gebrauchsgegenstand, man kann mich gut benutzen, ich bin gut, insofern ich deine Bedürfnisse stille, aber nicht mehr um meiner selbst willen. Und das kann tiefe Verwundungen hinterlassen, die Eva nicht mehr so schnell vergisst. Es geschieht eben nicht dasselbe, wie wenn Adam den großen Zeh von Eva sieht, selbst wenn es ohne ihre Erlaubnis geschehen würde.
Vielleicht kann man es auch so darstellen: Wenn ein junger Mensch stolpert und fällt, dann ist das nicht so tragisch. Wenn er sich aber aus vier Meter Höhe, im vollen Vertrauen auf sein ihn sicherndes Hochseilgarten-Team, in die Tiefe wirft…? Was dann? Was dann, wenn sie ihn im Stich lassen? Ausgenutzt werden schmerzt deswegen so sehr, weil man entblößt, mit allem was man hatte, mit radikalem Risiko und in vollem Vertrauen gesprungen ist. Aber ekstasemäßig geht es zu, wenn man erfährt: Der meint es wirklich so, ich falle nicht ins Leere, sondern in seine Arme, in die Tiefe seines Herzens.
Vor kurzem bin ich auf ein Werk des australischen Künstlers Michael Needham gestoßen. Dieses Werk, „Hallowed Object, 2006″, gibt den Eindruck eines hölzernen Altares, der umgestoßen und teilweise zerhackt wurde. Das Werk wurde vor Jahren in einer Kathedrale ausgestellt, was das Ganze für mich noch aussagekräftiger machte. Für mich ist der umgestoßene Altar wie der Körper des Menschen, der eben „Hallowed“ – etwas Heiliges ist. Aber das Sich-Zeigen macht den Körper verwundbar. Ein hölzerner Altar kann sich nicht wehren. Wenn man ihn zerstören will, kann man es tun. Aber eigentlich ist es gleich, ob der Altar zu 10 oder 80 Prozent zerstört wird. Natürlich ist die Zerstörung bei 80 Prozent größer, aber für die Schändung, für die „verletzte Würde“ reichen schon die 10 Prozent aus. Mit dem Körper des Menschen und seiner Nacktheit verhält es sich genauso. Verletzungen, aber auch Würdigungen im Bereich des Sexuellen, werden auf den ganzen Menschen bezogen, werden auf das eigene Ich ausgelegt und als Liebe oder Schändung des ganzen Ichs empfunden, auf die 100 Prozent eben.
Nackte Beziehung fordert enorm heraus: Masken begraben, Vortäuschung von sich weisen, Ehrlichkeit und Offenheit zeigen, den Partner annehmen. Zugleich, es lohnt sich. Denn die Erfahrung, dass der eigene Körper völlig „nackt“, völlig angenommen sein kann und als Geschenk empfunden wird, lässt den Wert des eigenen Körpers aufleuchten und dadurch den des eigenen „Ichs“ erfahren.
Das Sandwich und der Kampf für eine aufrichtigen Liebe
Beim „Nacktsein“ geht es schon darum, „ohne Kleidung“ zu sein – aber es geht eben auch um viel mehr. „Nacktheit“ wird in Genesis in zweierlei Kontexten und Begebenheiten dargestellt. Die erste Begebenheit ist die des Ein-Fleisch-Werdens von Mann und Frau. Die zweite Begebenheit ist die Präsenz der „Schlange“ und des „Baumes“. Das „Nacktsein“ bezieht sich erstens auf eine Gemeinschaft des gegenseitigen Sich-Schenkens und zweitens auf die Versuchung, der diese Gemeinschaft ausgesetzt ist: nämlich, sich nicht beschenken zu lassen, sondern die Frucht des Baumes an sich zu reißen, was zur Verschleierung der Nacktheit führen wird.
„Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander. Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“ (Gen 2,24-3,1)
Die Nacktheit ohne Scham meint auf besondere Weise dieses Ein-Fleisch-Werden, noch bevor diese Gemeinschaft der Versuchung des „An-sich-Reißens“ erlag. Im Ein-Fleisch-Werden waren sie natürlich nackt. Jedoch betont der Autor der Genesis die Tatsache nicht, weil das Nacktsein beim Ein-Fleisch-Werden etwas Besonderes wäre, sondern, weil das Sich-nicht-voreinander-Schämen dieser Nacktheit ihren besonderen Charakter verlieh.
Nacktheit im Sinn von Genesis lässt sich im Rahmen des Ein-Fleisch-Werdens verstehen. Nacktheit, bei der keine Scham entsteht, widersetzt sich allen Versuchungen der „Schlange“, das Geschenk des anderen, „die Frucht des Baumes“ an sich reißen zu wollen. Nacktsein ohne Masken ermöglicht die Erfahrung der Würde und des Wertes des anderen und des eigenen „Ichs“ – ich, der ich um meiner selbst willen in meiner Ganzheit gewollt und geliebt werde.
Hier, übrigens, kann man den 1. Beitrag und den 2. Beitrag zum Thema nachlesen.
Das ist der dritte und letzte von einer Serie von Beiträgen zum #TheologieDesLeibes Thema „Nacktsein“. Die Überlegungen entstammen etwas modifiziert und ergänzt aus dem von mir geschriebene Buch: „God, Sex & Soul“)
Titelbild: ©cheatless.com