Warum die Kirche keine Tankstelle für Menschen ist, die sich nach den alten Zeiten sehnen 

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Wir denken innerkirchlich noch großteils volkskirchlich. Das heißt, wir setzen in der Praxis eine Welt voraus, die es nicht mehr gibt. Christsein ist heute eine Option unter vielen. Optionalisierung nennt das mein Landsmann aus Kanada, der Philosoph Charles Taylor. Allein schon dieser Megatrend hat uns als Kirche paralysiert. Dafür sind wir nicht bereit. Wir erhalten jahrhundertealte Strukturen, Vorgehensweisen und Institutionen, die halt ihren Weg gehen. Diese Institutionen brauchten Manager und Verwalter oder, um es etwas kirchlicher auszudrücken, Hirten. Hirten, die sich um die Schafe kümmern, die da sind. Sie wurden aber weder ausgebildet noch vorbereitet, um Schafe zu erreichen, die nicht da sind. Nur etwa vier Prozent der Katholiken in Deutschland praktizieren ihren Glauben und feiern die Messe mit; für 96 Prozent hat die Kirche keine Bedeutung mehr, obwohl sie sich noch als katholisch bezeichnen. In Wien liegt der Anteil von praktizierenden jungen Katholiken geschätzt unter einem Prozent. Wenn wir also nicht lernen, das eine Schaf ruhig grasen zu lassen, um die 99 zu suchen, können wir bald zusperren.

In den volkskirchlichen Ländern war in volkskirchlichen Zeiten sogar die Mission nach innen gerichtet: die Volksmission. Die Leute sind von alleine zu uns gekommen. Es gab keine anderen Optionen, allein die Frage danach wäre absurd gewesen. Es bedurfte keiner großen Unterscheidung, was zu tun war, sondern es war klar: Erstkommunionunterricht, katholische Schule, katholische Jungschar, Firmunterricht. Man dachte eher in Programmen denn in Schritten. Denn Menschen auf einem Weg der Jüngerschaft zu begleiten, war viel weniger notwendig (mit Ausnahme der geistlichen Begleitung), weil das gesamte Umfeld dazu verholfen hat. All das hat sich grundsätzlich verändert.

Die Herausforderung hin zu einem Paradigmenwechsel ist auch deswegen so groß, weil man argumentieren könnte, dass wir uns in der westlichen Welt in einer kirchlichen Großwetterlage befinden, wie wir sie seit Konstantin, also seit 1700 Jahren nicht mehr wirklich hatten. In dieser Situation möchte ich drei Prioritäten für eine missionarische Pastoral vorschlagen – auch wenn ich mich in diesem Beitrag auf die erste beschränken muss: zur visionären Leiterschaft befähigen, relevante Glaubenserfahrungen ermöglichen, Jüngerschaft konkretisieren.

Eine fundamentale Bemerkung zu Beginn: Das Gebet ist das Fundament, auf dem jegliches pastorales Tun aufbauen muss. Alles, was wir tun, ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn der Herr nicht auftaucht. Wirkliche Fruchtbarkeit für das Reich Gottes kann nur dort entstehen, wo gebetet wird. Das gilt auch für jeden einzelnen der soeben erwähnten Prioritäten.

Zu visionärer Leiterschaft befähigen

Die meisten Gemeinden, die zu uns ins „Zentrum Johannes Paul II.“ in Wien kommen, um Inspiration und Hilfe zu suchen, haben keine Vision. Sie verstehen oft gar nicht, wovon wir reden. Sie denken in Fragen „wie schaffen wir es, den Firmkurs zu schmeißen“ und „wie organisieren wir dieses Jahr den Christkindlmarkt?“ Sie denken volkskirchlich. In einem volkskirchlichen Kontext fokussiert sich die Predigt stark auf die Bekehrung des Verhaltens. Weil das Grundnarrativ des Christlichen nicht infrage gestellt wird. Was die Gefahr mit sich bringt, den Glauben auf die Moral zu reduzieren: „Sei ein guter Mensch!” Ja, fein, aber das sind genügend Atheisten auch.

Wenn in der „Volkskirche“ die Verkündigung stark mit der Moral zusammenhing, so bedarf es heute zuallerst mal des „Vision casting“. Um eine Idee des US-Priesters James Shea aufzugreifen: Wir müssen lernen, das menschliche Drama und das christliche Narrativ neu zu erzählen. Sonst werden die meisten unserer Aussagen für moderne Ohren überhaupt keinen Sinn ergeben, absurd oder sogar gefährlich scheinen. Wenn man zum Beispiel die sakramentale Vision nicht versteht, dass wir in einer sichtbaren und in einer unsichtbaren Welt gleichzeitig leben, dass das Sichtbare Träger einer tieferen Botschaft ist, dass die ganze Schöpfung die Geschichte Gottes erzählt, dass sogar das, was ich mit meinen Körper sexuell mache oder wie ich einen Obdachlosen behandle, die Herrlichkeit Gottes aufleuchten lässt oder auch ein Anti-Sakrament, eineArt Sakrileg werden kann, dann brauche ich gar nicht beginnen, über Themen wie Realpräsenz, Sexualmoral, Frauenpriestertum oder Kirche zu sprechen.

Wir brauchen aber Vision noch in einem anderen Sinn. In einer Zeit der Optionalisierung bedarf es einer klareninsitutionellen Vision. Wo wollen wir hin? Die Vision darf und soll auf den Knien erbetet werden. Aber wir brauchen sie. Optionalisierung heißt, Optionen zu haben. Menschen werden sich für unser Angebot entscheiden, wenn sie wissen, wo wir hinwollen und davon überzeugt sind. Eine Vision ist ein Bild von Zukunft, das Begeisterung auslöst. Und da tun wir mit einem verwässerten Anspruch des Evangeliums niemanden einen Gefallen.

Eine klare Vision bringt mehrere Vorteile: Vision schafft Zugehörigkeit und Eigenverantwortung. Ich bin dabei, weil ich es will, weil es eine gemeinsame Vision gibt, wofür ich mich in der Freiheit entschieden habe. Das war zum Beispiel früher unser großer Fehler in Wien. „Wir helfen dem Herrn Pfarrer bei seinem Projekt.“ Es geht aber nicht darum, dass die Laien dem Pfarrer bei seinen Sachen helfen. Es geht um die Sache des Herrn, die zu unserer gemeinsamen Sache geworden ist, wozu wir uns alle entschieden haben. Das heißt auch: neue Befähigung der Laien. Wenn man alles kontrollieren will, wird man nicht zur Leiterschaft befähigen. Wo man Verantwortung zutraut, baut man Leiter auf. Wenn man das nicht tut, dann schafft man ein ungutes Gefälle Priester-Laien (Klerikalismus), wo der Priester oft unbewusst eine Konsumentenkultur sogar noch fördert, indem er einer passiven Laienschaft „geistige“ und sonstige „Produkte“ reicht, mit fatalen Folgen. Ein Studentsagte mir einmal: „Ich glaube, Menschen kommen wegen der Gemeinschaft ins Zentrum Johannes Paul II.. Aber sie bleiben, weil man ihnen Verantwortung übergibt, an sie glaubt und befähigt.“

Diese Befähigung der Laien wird aber missglücken, wenn man das oben erwähnte Meta-Narrativ nicht versteht. Ohne dieses wird es nur um Machtverhältnisse zwischen Laien und Priestern gehen, um eine Verwischung und sogar Verneinung der gegenseitigen Rollen. Statt die Laien zu befähigen, im säkularen Raum das Licht des Evangeliums aufleuchten zu lassen (eines der großen Anliegen des Zweiten Vatikanums), wird es darum gehen, dass Laien Priester spielen und Priester Laien, um gegenseitige interne Machtspiele, um ein Kreisen um sich selbst. Eine Organisation, egal welche, die nur um sich selbst kreist und sich nicht erinnert, warum sie eigentlich in der Welt ist und welchen Auftrag sie hat, wird krank. 

Vision schafft Kriterien für Priorisierung

Wenn etwas mit der Vision nicht übereinstimmt, warum macht man es dann? Unsere Version des Grundauftrags der Kirche „geht in die ganze Welt hinaus und macht Jünger“ (vgl. Mt 28,19) lautet: „Wir wollen fernstehende Menschen für Jesus Christus und seine Kirche begeistern, sie zu missionarischen Jüngern befähigen und anderen (Pfarr)Gemeinden helfen, dasselbe zu tun.“ Oder verkürzt: „Forming apostles to transform the world“ – nicht, dass wir morgen mal schnell die Welt verändern werden. Dieser kurze Satz sagt nicht alles. Aber dieser Satz schenkt Klarheit und macht die Vermittlung dessen, worum es uns geht, leichter: einen Fokus auf Menschen und Schritte der Jüngerschaft zu legen statt auf „wie bekomme ich möglichst viele Menschen zu Veranstaltungen?”; einen Fokus auf Eigenverantwortung, Befähigung und Leiterschaft statt auf christliches Konsumententum, einen Fokus auf Mission statt auf Um-uns-selbst-Kreisen, ein Nein zu den tausenden Ablenkungen und Veranstaltungen und Beschäftigungen, die uns von unserem eigentlichen Auftrag abhalten.

Visionäre Führung hilft die Spannung auszuhalten

Die Spannung aushalten: Welt, aber nicht von der Welt. Papst Benedikt XVI. entwickelte die von Romano Guardini aufgenommene Idee der „Spannungseinheit“ weiter. Die Spannung zwischen der Kirche und der modernen Welt muss ausgehalten werden. Der Rückzug in eine getrennte Welt führt zum Verlust der missionarischen Kraft, weil er in der Praxis die Wirklichkeit der Menschwerdung und des realen Wirkens des Auferstandenen im Hier und Jetzt verneint. Er verneint dann aber auch die Gebrochenheit der Welt, die Tatsache, dass wir nicht jetzt schon einfach den Himmel bauen können.

Glaube hat, wo er gesund war, immer in die Welt der Gegenwart hineingewirkt. Sonst verfällt er in Sektierertum und utopische Vorstellungen, die gewissen neo-marxistischen Strömunungen nicht ganz unähnlich sind. Die Kirche darf nicht zu einer Tankstelle für Menschen schrumpfen, die sich nach den alten Zeiten sehnen, sondern muss auf Neuevangelisierung ausgerichtet bleiben. „Das Sicherste ist ein Schiff im Hafen. Aber dafür ist es nicht gebaut.“ (John Augustus Shedd)

Die Vision bestimmt die Methoden, nicht andersherum

Strategien werden entwickelt, um eine Vision zu verwirklichen. Es gibt die Tendenz, dass die Strategien mit der Zeit gar nicht mehr der Vision dienen, sondern dass der Erhalt der Strategie, des Programms oder der Methode zur Vision wird. Man startet eine Schule, um jungen Menschen zu helfen, als verantwortliche Christen heranzureifen. Das wird mit der Zeit vergessen. Und dann geht es darum, die Schule als Institution am Leben zu halten, ohne zu fragen, ob sie überhaupt hilft, junge Menschen als verantwortliche Christen reifen zu lassen.

„Marry your vision, date your strategy  –  Heirate deine Vision, date deine Strategie … Manche Menschen lieben ihre Strategien mehr als die Menschen selbst.“ (Andy Stanley)

Es geht doch darum, Menschen zu helfen, Jesus nachzufolgen, nicht Strukturen aufrechtzuerhalten. Man sagt, dass eine der schwierigsten Aufgaben dieser Welt darin besteht, ein Programm in einer katholischen Pfarre zu beenden – man habe dies oder jenes ja immer schon gemacht. Wenn wir so denken, werden wir unseremAuftrag nicht gerecht. Es darf keine „heiligen Kühe“ in unserer Pastoral geben. Die Kirche wird am Ende der Zeiten noch existieren, unsere Art der Firmvorbereitung oder unser Jungscharprogramm wahrscheinlich nichtmehr. Vielleicht sollte man das Programm schon vorher zu Grabe tragen.

Visionäre Führung betont mehr die Kultur als die Strategie

„Kultur frisst die Strategie zum Frühstück.“ (Peter Drucker) Die Kultur muss also über der Strategie stehen. Mit „Kultur“ meinen wir die Werte, die tatsächlich gelebt werden. Ich kann mir als Gemeinde vornehmen, missionarischer zu werden und dafür Strategien entwickeln. Aber das wird nicht funktionieren, wenn die Mehrheit der Mitglieder nicht wenigstens einen Menschen in ihrem Leben hat, den sie betrauert, weil er oder sie den Herrn nicht kennt. Wenn die Kultur gesund ist, dann kann der Leiter Kontrolle loslassen. Das fördert Leiterschaft und vervielfältigt den Dienst.

Vision soll aus dem Gebet entstehen

Man kann keine Welle bauen, aber man kann lernen, sie zu surfen. Jahrelang haben wir in Wien versucht,eine Welle zu bauen, haben Gott gesagt, was er zu segnen hat, anstatt zu schauen, was er gerade segnet und wie wir mitmachen können. Ein wahrer synodaler Weg hat immer das Gebet im Mittelpunkt. Es bedarf desGebets, um in ein „geistiges Gespräch“ zu kommen, um zu unterscheiden: Welche Wellen baut Gott gerade und wie können wir sie zu surfen lernen?

Auch wenn man das nicht verabsolutisieren sollte, war es doch im Allgemeinen so, dass in einer Volkskirche das Unterscheiden als geistiger Prozess eher auf der persönlichen Ebene betrieben wurde. Es war auf der institutionellen Ebene weniger notwendig, weil es klar war, was zu tun war. Das ist heute grundsätzlich anders. Wir müssen uns ständig fragen, ob das, was wir tun, der Vision, Menschen für Jesus zu begeistern und sie auf einen Weg der Jüngerschaft zu begleiten, überhaupt noch dient.

Ich denke an eine Organisation in einer deutschsprachigen Stadt, die vor 15 Jahren das Paradebeispiel für Jugendpastoral schlechthin gewesen ist. Heute hört man von ihr fast nichts mehr. Die Bereitschaft hinzuhören, welche Vision Gott gerade hat und welche Wellen er gerade baut, hat heute an Wichtigkeit gewonnen.

Zu Beginn habe ich drei Prioritäten erwähnt, um eine missionarische Kirche zu werden. Ich habe mich hierausschließlich auf das Thema „Vision” konzentriert. Ich muss erst mal wissen, wo ich hinwill, bevor ich loslaufe. Die beiden anderen Prioritäten, „relevante Glaubenserfahrungen ermöglichen“ und „zur missionarischen Jüngerschaft befähigen und begleiten“, sind genauso wichtig. Missionarische Kirche: Wie kommen wir da hin? Manche stellen sich die Frage nicht, weil sie nicht sehen, dass es anders gehen könnte. Man nimmt den Untergang irgendwie hin. Oder man lügt sich selbst in die Tasche. Für mich ist die Erfahrung,in anderen Ländern unterwegs zu sein, interessant. Viele fragen sich, was mit den Deutschen los sei. Oder wenn man von der Weltsynode hört, dass Deutsch nicht einmal eine der fünf offiziellen Sprachen gewesen sei.Oder dass ein Bischof aus Afrika fragt: „Ihr habt keine Berufungen mehr, keine Leute in der Kirche mehr und ihr wollt uns sagen, wie Kirche zu gestalten ist?“ Wir verlieren hier weltkirchlich gesehen immer mehr an Relevanz. Das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht für unsere Demut. Denn Stolz ist immer der Vorausbote des Untergangs. Aber wenn wir den Herrn lieben, wenn die Menschen uns wichtig sind, wenn die Kirche uns nicht egal ist, dann müssen wir aufwachen.

„Geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern.“ (Mt 28,19) Das war der Beginn der apostolischen Zeit. Man kann sich vorstellen, wie sich die Apostel zu ihrer ersten „Evangelisationsausschusssitzung“ versammelten. Der Ist-Zustand wird eruiert: Bischöfe: 11. Priester, ebenso viele. Diakone: 0. Priesteramtskandidaten: 0. Gläubige Christen: in etwa 100. Ordensleute: 0. Ausgebildete Theologen: 0. Schulen und Universitäten: 0. Soziale Einrichtungen: 0. Kontakt zu einflussreichen Personen: so gut wie keine. Geld: sehr wenig. Verschriftlichte Evangelien: 0. Kirchengebäude: 0. Erfahrung in Auslandseinsätzen: 0. Gesellschaftliche Einstellung uns gegenüber: ignorant bis feindselig.

So etwa stellt sich das James Shea in seinem Buch „Reset Church – pastorale Strategien für ein apostolisches Zeitalter“ vor. Er fährt fort: „Hätten die Apostel in der Denkweise einer Volkskirche gedacht und ihre Situation vom Standpunkt der Stärke der bestehenden christlichen Institutionen aus beurteilt, wären sie von Entmutigung überwältigt worden, da sie mit Schwierigkeiten in allen Bereichen konfrontiert waren: beruflich, finanziell, katechetisch, pädagogisch und zahlenmäßig. Aber sie waren nicht entmutigt, sie waren voller Freude und Hoffnung.“

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