DAS SCHÖNE
Schönheit packt uns. Macht etwas mit uns. Reißt uns heraus aus den Sorgen, dem Alltag, lässt uns erahnen: Da gibt es eine andere Welt. Das Schöne bringt uns in Kontakt mit unseren tiefsten Sehnsüchten, lässt uns erahnen, das Leben ist doch gut, es ist gut, dass ich existiere, dass ich auf dieser Erde lebe. Das Wahrnehmen der Schönheit bedarf einer gewissen Fähigkeit zur Kontemplation.
Die Kontemplation wird klassisch definiert als ein einfacher Blick auf die Wirklichkeit unter dem Einfluss der Liebe. Liebe hat etwas mit Zweckfreiheit zu tun. Also nicht „Ich gebe dir das, wenn du mir das zurückgibst“, sondern einfach mal so. Ich schenke dir das oder jenes nicht, weil ich etwas von dir will, sondern einfach, weil es schön ist, weil du es mir wert bist. Zweckfreie Liebe lässt tiefer in die Dinge und in einen anderen Menschen hineinschauen, weil man mehr als nur das sieht, was man im Blick hat. Gier reduziert das Blickfeld auf das, was das Objekt der Begierde ist. Liebe hingegen befreit den Blick, um weiter, tiefer und höher zu sehen. Deswegen sagte mal ein Johannes Paul II., dass zum Beispiel die Pornographie nicht zu viel zeige, sondern zu wenig. Einen Blick für die Schönheit zu haben heißt den Blick auf das Ganze zu lenken. Einfach mal stehen lassen können, ohne gleich für den eigenen Nutzen verzwecken zu wollen.
Ja, Kanada hat uns einmal mehr in Kontakt mit der herrlichen Schönheit der Natur gebracht. Auch wenn es mal geregnet hat. Wir waren aber nicht hierhergekommen, sodass die Natur gefälligst unsere Erwartungen zu erfüllen hatte. Wir wollten lernen, sie so anzunehmen, wie sie ist, wie sie sich uns präsentiert. Mit ihrer Wildheit. Ihrer Unberechenbarkeit. Lernen, uns an dem zu erfreuen, was uns geschenkt wird. Auch das ist eine nicht so einfache Lektion. Für einige von uns war der Dauerregen schon eine große Herausforderung. Das Wetter entsprach aber auch gar nicht unseren Erwartungen. In dem Maße aber, wie es uns gelang, das anzunehmen, wurden wir innerlich freier, um darin auch das Schöne zu erkennen.
Vielleicht aber war das Schönste nicht einmal die Natur, sondern unsere Begegnungen. Eine Expedition führt schnell dazu, dass die Masken fallen. Jemand sagte, dass er die Mitabenteurer auf dieser Reise besser kennengelernt habe als einige Freunde, die er schon viele Jahre kennt. Interessant. Und gerade diese tiefen, zweckfreien Begegnungen haben uns Wege eröffnet, das Schöne nicht nur an der Natur, sondern auch in unserem Gegenüber kennenzulernen und wertzuschätzen und dadurch etwas von der Schönheit Gottes zu erahnen. Hoffentlich ist das eine der Lektionen, die wir nicht so schnell wieder vergessen.
Erst dann, wenn das Gegenüber nicht als Mittel zum Zweck für das Öffnen eines Weges gesehen wird, ist das große Geschenk zu erkennen, das sich einem durch ihn oder sie eröffnet. Und das wiederum hilft dem Gegenüber, sich selbst besser wertzuschätzen. Ein zweckfreier Blick ist schlussendlich ein Blick der Liebe. Nur die Liebe erkennt Schönheit. Und nur die Liebe schafft sie.
Manchmal waren es einfach die kleinen Dinge: Jemand, der sich noch spät am Abend durch das Gestrüpp wagt, um Wasser für die anderen zu holen. Jemand, der schon in der Früh den Kaffee vorbereitet. Jemand, der anbietet, das Zelt eines anderen, der am Limit ist, auf seinem eigenen Rucksack festzubinden. Jemand, der merkt, dass es einem anderen gerade nicht so gutgeht und versucht, ihn im Gespräch zu erheitern. Es waren oft die kleinen Dinge, die uns einen wertvollen Blick in die Schönheit eines Herzens, das nicht für sich selbst lebt, geschenkt haben. Die Schönheit eines gemeinsamen Abendessens um ein Lagerfeuer herum. Die Schönheit einer winzigen Bergblume, die nie jemand vor uns und nie jemand nach uns jemals gesehen hat oder sehen wird.
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KONKLUSION
Diese Expedition war für uns eine tiefe Erfahrung. Zu einem gab es die Konfrontation mit der Wahrheit, die Erfahrung, dass Wahrheit mit Annahme der Wirklichkeit zu tun hat – und nicht mit deren Manipulation. Wir erfuhren, dass der Weg in die Freiheit nicht im Verdrehen der Wirklichkeit nach eigenem Wunschdenken besteht, sondern in deren Annahme. Zum anderem haben wir einen tieferen Zugang zu dem finden können, was wir mit dem Begriff „das Gute“ meinen, dass dieses „Gute“ mit der Übernahme und nicht mit der Flucht von Verantwortung zu tun hat. Zuletzt durften wir erfahren, wie uns Schönheit packt und aus unserem Alltagstrott und aus unserer allzu klein gewordenen Welt herausreißt – und uns in Kontakt mit unseren tieferen Sehnsüchten bringt, uns einen Zugang zur wahren Größe unseres Gegenübers eröffnet, aber auch einen Weg zu Gott vorzeigt.
Kanada war für uns zugleich keine einfache Erfolgsstory. 2017 hatten wir es trotz Herausforderungen geschafft, mit der ersten erfolgreichen Überquerung der Coastal Mountains entlang der „Third Crossing Route“ ein Stück Geschichte zu schreiben. Dieses Mal mussten wir schon am zweiten Tag der Expedition damit rechnen, dass wir eine Alternativroute brauchen würden, einen Exit-Plan. Somit war diese Expedition auch mit einer Erfahrung des Scheiterns verbunden. Nicht, weil nicht nach Powell River gekommen sind, aber weil wir am Ende nicht ganz dort ankamen, wie wir es gerne gehabt hätten. So wie das Leben eben. Aber gerade das machte diese Expedition besonders wertvoll. Unsere Erwartungen waren ganz andere gewesen. Und doch bereut es keiner von uns, diese Erfahrung gemacht zu haben. Abenteuer bringt eben auch Risiko mit sich. Das Risiko des Unerwarteten, das Risiko der Überraschungen.
Das Einschätzen von Risiken lernen ist eine der Zielvorgaben von „Adventure&Faith“ des Zentrums Johannes Paul II. Der Umgang mit dem Scheitern ist es auch. Aber was ist eigentlich gescheitert? Unsere Erwartungen, unsere Vorstellungen. Wir durften lernen, uns neu von dem beschenken zu lassen, was wir in der kanadischen Wildnis erfahren durften. Gerade für diejenigen unter uns, die das Wort „Faith“ bei „Adventure&Faith“ besonders betonen würden, war diese Expedition auch deswegen eine große Lektion des Lebens. Man sagt, Gott könnte auf krummen Zeilen gerade schreiben. Das durften wir hier besonders stark erfahren. Das Scheitern oder das Nichterfüllen der Erwartung ist oft ein schwieriger Moment. Und doch. Der Weg nach vorn läuft nicht über das „Was habe ich hier verloren?“, sondern über das „Was wird mir durch diese Krise ermöglicht?“
Kanada, wir kommen wieder.
Postskript.
Postskript.
In ihrem „The New York Times“-Bestseller „The Power of Moments“ (die Macht der Augenblicke) stellen sich die Autoren Chip & Dan Heath die Frage, warum eine relativ kurze Erfahrung (zum Beispiel im Laufe eines einzigen Abends) zuweilen eine tiefere Prägung hinterlassen kann als so manch jahrelanges Bemühen. Das trifft auf eine negative Erfahrung zu (zum Beispiel ein Trauma), aber eben auch auf eine positive Erfahrung (zum Beispiel ein Musiklehrer, der seinem Schüler zuspricht, was dazu führt, dass er wieder an sich glauben kann). Zugleich fragen die Autoren, ob solche Augenblicke einfach willkürlich sind oder ob sie gewissen Mustern folgen. Sie präsentieren dann vier Elemente, die dazu beitragen können, dass eine Erfahrung prägend wird. Es müssen nicht immer alle vier Elemente gegenwärtig sein. Allerdings kann es auch sein, dass eine besonders prägende Erfahrung sehr wohl alle vier Elemente kombiniert. Positiv prägende Erfahrungen weisen also diese Charakteristiken auf:
- Sie erheben. Es geht nicht um vorübergehende Glücksmomente, wie wenn man zum Beispiel über einen Witz lacht, sondern um Momente, die wortwörtlich außergewöhnlich sind, weil sie aus dem Alltag herausragen. Sie führen zu Erfahrungen von Glück oder Freude, die nicht nur mehr rein oberflächlich sind. Öfters bergen sie überraschende Elemente.
- Sie führen zu Einsicht. In ein paar Sekunden können sie unser Verständnis von uns selbst und unserem Platz in der Welt ändern. Ich muss jetzt meinen Job wechseln. Ich will diese Person heiraten. Ich muss mich für diese ausgegrenzte Menschen einsetzen. Ich kann so nicht weiterleben.
- Sie helfen uns zu erkennen, wozu wir fähig sind, verursachen gesunden Stolz. Es sind Momente des Mutes, des Erreichen eines Zieles, des Herauskommens aus der eigenen Komfortzone. Wenn der Glaube im Spiel ist, geht es darum, die eigene Größe in Gottes Augen zu erkennen und die „Macht, die in uns wirkt“ (Eph 3,20) anzuerkennen, durch die Gott in uns „unendlich viel mehr tun kann, als wir erbitten oder erdenken“. (Eph 3,20)
- Sie sind sozial. Sie geschehen oft im Kontext von Beziehung, weil wir sie mit anderen geteilt haben. Wenn sie mit dem Glauben in Verbindung stehen, geht es um eine Erfahrung dessen, was „Kirche“ eigentlich heißt: die Gemeinschaft der Glaubenden in Christus, dass wir alle eins sind in ihm, dass wir alle Glieder seines Leibes sind, einander tragen und füreinander da sind.
Eine Expedition wie in Kanada, kann – wenn sie gut gemacht ist – alle vier Elemente kombinieren. Das ist mit ein Grund, warum mich „Adventure & Faith“ so begeistert und ich darin so viel Potenzial sehe. Ein Teilnehmer erwähnte zum Beispiel, dass er in den zwei Wochen in Kanada Menschen besser kennengelernt und tiefere Beziehungen aufgebaut habe als zu manch langjährigem Freund. Für mich persönlich war es vor allem die Erfahrung von Kirche, wie ich sie nie vorher erlebt hatte. So klang auch das Feedback, das wir von den Leuten, denen wir begegnet sind, erhalten haben: „Ich habe noch nie so eine Gruppe erlebt. So eine echte tiefe Einheit, so eine Freiheit, so eine Ausstrahlung, wie ihr miteinander umgeht …“ Aus einer pastoralen Perspektive ist das nur genial, weil es ein nicht aufgepfropftes Reden ist, sondern eine in der Freiheit angeeignete Erfahrung, die langfristig prägt. Da zahlt sich der gesamte Aufwand dafür tausendfach aus.
Übrigens, hier kann man die Dokumentation über die Expedition anschauen.