Juli 2019. British Columbia. Irgendwo in der Wildnis der Coastal Mountains, eine dicht bewaldete und von vielen Fjorden unterbrochene Bergkette an der kanadischen Westküste. An den westlichen Hängen steigt feuchte Meeresluft hinauf. Das verursacht kaum zugängliche Regenwälder und mitunter den heftigsten Regen- und Schneeniederschlag von ganz Nordamerika. Die Gipfel sind stark vergletschert. Hier ist die Heimat der größten Mild-Breitengrad-Eisfelder der Welt. Ein Naturspektakel, das seinesgleichen sucht.

 

Die Coastal Mountains sind großteils unberührt. Auf der gesamten Länge von 1600 Kilometern werden sie nur zweimal von Straßen überquert.

 

Nach den gescheiterten Versuchen von 1970 und 2008 konnte 2017 eine österreichische Expedition die erste erfolgreiche Überquerung entlang der „3rd crossing Route“ zurücklegen. Die Expedition lief unter der Obhut von „Adventure&Faith“ – einer Initiative, die Menschen durch Abenteuer und Gemeinschaftserfahrungen in der Natur inspirieren und befähigen will, die beste Version ihrer selbst zu werden und positiv auf ihr Umfeld einzuwirken. Es geht um Abenteuer, Glaube und Gemeinschaft, um ein Voranschreiten in der Beziehung untereinander, mit Gott und mit sich selbst. Man will etwas von dem einüben, was mit dem Wort „Größe beginnt außerhalb deiner Komfortzone“ ausgedrückt werden will.

 

2019 kehrt „Adventure&Faith“, eine Initiative des Zentrums Johannes Paul II. in Wien, nach British Columbia zurück, um wieder eine Überquerung zu versuchen. Allerdings auf einer Route, die – soweit wir das herausfinden konnten – noch nie jemand gegangen ist. Der durch die Wildnis geschlagene Weg soll „Valentin Alge Route“ heißen, um an einen 2018 tragisch verunglückten Bergfreund zu erinnern. Aber zuvor muss man erst mal 132 Kilometer Strecke und 12.000 Höhenmeter in der Wildnis bewältigen. Die Rucksäcke sind 25 bis 35 Kilogramm schwer, bepackt mit Zelten, Steigeisen, Kletterseilen und jeder Menge Erdnussbutter. Bärenspray (eine starke Portion Pepper Spray) soll gegen Grizzly- und Schwarzbären schützen. Berglöwen, Vielfraßen und Wölfen wird man hoffentlich erst gar nicht begegnen. Wenn alles gutgeht, wird die Gruppe in 12 Tagen in der Ortschaft Powell River an der Küste ankommen.

 

Warum macht man so etwas? Tja. Die sich über zig Kilometer erstreckende Bergkämme verheißen spektakulär zu werden. Aber um dort hinzukommen, muss man sich ein paar Tage lang mittels „buschwhacking“ einen Weg durch den Regenwald schlagen. Und wie mühsam das ist, verrät die Tatsache, dass es der Gruppe fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, einen Kanadier zu überzeugen, er solle sie doch beim Buschwhacking begleiten. Versuch einmal durch eine Wand von drei Meter hohen, dornenverwachsenen Brombeerbüschen zu laufen und dann hast du eine Ahnung davon, was Buschwhacking heißen kann. Außerdem kann sich ein Europäer die „Black Flies“ und Mückenschwärme erst dann vorstellen, wenn er sie erlebt hat. Und doch scheint sich das alles irgendwie zu lohnen.

 

Vielleicht bietet das Thema der Reise schon eine Antwort. Unterwegs will man sich mit dem „Guten, dem Wahren, und dem Schönen“ auseinandersetzen. Der Duden definiert Sehnsucht als ein „schmerzliches inniges Verlangen nach etwas oder jemanden Entbehrten oder Entfernten.“ Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem wahrhaft Guten, nach authentischer Schönheit und nach Unverfälschtem, die uns in diese Wildnis zieht. Man glaubt, es lohne sich etwas auf sich zu nehmen, um das zu erreichen.

 

  1. Juli. Horseshoe Bay ist Treffpunkt. Wir sind 14 Abenteurer. 8 Männer und 6 Frauen. Ein sehr langer Tag, besonders für alle, die heute Morgen von Wien über München oder Zürich oder London nach Vancouver geflogen sind. Eine Fähre bringt uns über das Meer bis nach Langley. Hier trifft man auf Max und Gerlinde, ein älteres befreundetes Ehepaar, das die Gruppe mit Essensrationen versorgt. Ein Stopp beim lokalen Chinesen. Ein Taxi fährt uns auf einer Forststraße, soweit das halt möglich ist. Und endlich kann es losgehen. „Start strong“ lautet die Devise. Es sollte stark regnen, möglicherweise auch noch Gewitter geben. Und es scheint, dass es in den nächsten Tagen nicht viel besser wird. Das wird noch interessant. Ein paar Stunden Nachtwanderung später finden wir einen Ort fürs Aufschlagen der Zelte.

 

Grizzlys können bis zu 4 Meter Höhe alles erreichen. Für Schwarzbären ist das Klettern auf einen Baum ein Klacks. Daher wird empfohlen, das Essen 4 Meter über dem Boden und wenigstens 2 Meter  vom Baumstamm entfernt aufzuhängen. Leicht gesagt, wenn sich die niedrigsten brauchbaren Äste dieser Bäume erst in 15 Metern Höhe befinden – mit Ausnahme von einem. Aber der bricht gerade ab. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Essenspakete möglichst weit weg vom Camp und voneinander im Busch zu verteilen und auf das Beste zu hoffen. Der Bärenspray kommt mit ins Zelt.

 

DAS WAHRE

 

Auf der Suche nach dem Wahren, dem Guten und dem Schönen. Gleich am 2. Tag werden wir stark mit dem Thema der Wahrheit konfrontiert. Wahrheit ist so ein Ding. Oft genug reicht schon allein das Wort, um Gedanken und Begriffe wie Intoleranz, Kreuzzüge und Konzentrationslager hochkommen zu lassen. Aber so einfach scheint das nicht zu sein. Wenigstens lässt uns die Wildnis zum Begriff Wahrheit neue Assoziationen entdecken. Welche?

 

Tag 2 soll unser einfachster Tag werden. Es ist die Vorbereitung auf die eigentlichen Herausforderungen der darauffolgenden Tage. Ein kleinerer Berg steht vor uns. Viele Kilometer bis auf die andere Seite sind es nicht. Ein Klacks eben. Gut, ein wenig vorsichtig müssen wir schon sein, der Dauerregen hat den Boden unter unseren Füßen sehr aufgeweicht und rutschig gemacht. Mit dem schweren Gepäck wird das eine Herausforderung, aber weit ist es ja nicht. Der Weg zum Gipfel verläuft relativ einfach.
Beim Abstieg auf der anderen Seite ist ein wenig Abseilen noch lässig. Aber dann folgen eine Mischung aus kurzen Strecken mit rutschigen übereinanderliegenden Felsbrocken und dichtem Waldgestrüpp, durch das man nur mit größter Mühe kommt. Außerdem geht es steil abwärts. Immer wieder rutscht jemand aus. Die Macheten wirken hier kaum und jeden Baum kann man ja nicht gleich umsägen. Jetzt sollte sich ja nur niemand einen Knöchel anknacksen oder mit einem Bein in einem Felsspalt abrutschen! Im Leitungsteam beginnt man sich Sorgen zu machen. Hier könnte weit und breit kein Hubschrauber landen, um jemanden herauszufliegen.

 

Das Navi wird überprüft. Wir sind in den letzten fünf Stunden ganze 800 Meter weitergekommen. Das kann doch nicht wahr sein! Und jetzt wird es dunkel, es ist beinahe 21 Uhr. Wir sind immer noch am Hang. Hier können wir nicht übernachten. Laut Karte fehlen uns nur noch 200 Höhenmeter bis zu einem möglichen Übernachtungsplatz.

 

Dominik, unser Leiter, schreit auf. Eben hat er bemerkt, dass der Busch eines der Zwei-Personen-Zelte von seinem Rucksack abgerissen hatte. Irgendwann in den vergangenen elf Stunden ist das Zelt verlorengegangen. Das auch noch! Ausgerechnet am Beginn der Expedition. Was jetzt? Eine heikle Situation. Ein Teilnehmer weist darauf hin, dass es in der Dämmerung wegen der Raubtiere nicht so eine gute Idee sei, weiterzugehen. Aber hier auf den Felsbrocken zu bleiben ist ja auch keine Option.

 

Im Leitungsteam beginnt es uns klar zu werden, dass wir mit dieser Geschwindigkeit in sieben Tagen niemals den Treffpunkt für den Lebensmittelnachschub im Jervis Inlet am Vancouver Bay erreichen werden. Und Alternativrouten zu diesem heranwachsenden Schlamassel gibt es kaum. Darüber wollen wir nicht schon am Tag 2 der Expedition nachdenken. Aber Dominik, der so gut wie nie die Fassung verliert, ist gerade dabei, sie zu verlieren. Niemand weiß wirklich, was wir jetzt tun sollen.

 

In diesen Moment beginnt Beni, der auch im Leitungsteam ist, Anordnungen zu geben, ohne groß herumzufragen. In der Krise gilt es nicht zu motivieren, sondern zu leiten. Hier zeigt sich gute Leiterschaft, aber zu der war der Rest des Leitungsteams in diesem Augenblick nicht fähig. Jetzt muss gehandelt werden.

 

Beni schickt zwei der Schnelleren zurück zu der Stelle, wo vermutlich das Zelt verlorengegangen ist. Wenn die beiden Glück haben, werden sie uns spätestens in ein paar Stunden wieder einholen. Max und Paul werden mit den Macheten vorausgeschickt, um für den Rest der Gruppe einen Weg durch die letzten 200 Höhenmeter zu bahnen. Es wird dunkel, das ist aber egal. Denn wir müssen weiter.

 

Nicht einmal eine Stunde später – die Erleichterung. Das Zelt ist gefunden worden. Die Stimmung steigt wieder ein wenig. Und die brauchen wir jetzt. Denn die letzten 200 Höhenmeter zeigen sich noch schwieriger als alles andere zuvor. Und das im Dunkeln. Wir sind mit einer Geschwindigkeit von etwa 67 Meter pro Stunde unterwegs. Es ist zum Weinen. Oder zum Verzweifeln. Endlich erreichen wir eine Lichtung bei einem Bach. Abendessen um Mitternacht. Tag 2 der Expedition ist endlich vorbei.

 

Wahrheit. Wie lange kannst du in der Wildnis überleben?  Eine bekannte englische Abenteuerin, Megan Hine, sagte einmal dazu: „Zwei Wochen ohne Essen, 3 Tage ohne Wasser, 3 Sekunden ohne Denken.“ Und das Erste, was hier wichtig wird, ist laut Hine die Annahme der Situation, in der man sich befindet: „Die Annahme hilft dir, deinen emotionalen Koffer zu entledigen und klarer zu denken, weil du nicht deine gesamte Energie damit aufbrauchst, die Wirklichkeit zu bekämpfen.“

 

Das hat uns heute Beni vorgelebt. Die Annahme der Wirklichkeit. Genau darum geht es bei der Wahrheit. Also nicht die Übereinstimmung der Wirklichkeit mit dem, was ich gerne hätte, sondern die Übereinstimmung von meinem Denken mit der Wirklichkeit. Nicht das Denken bestimmt die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit sollte das Denken bestimmen. Ja, vielleicht hätte man es lieber, wenn man das Zelt nicht verloren hätte. Aber so zu tun, als wäre es gar nicht weg, bringt es nicht zurück. Vielleicht hätte man es lieber, wenn uns die gefahrenreichen Felsbrocken heute nicht im Weg gestanden wären. Aber so zu tun, als wären sie nicht gefährlich oder als wären sie nicht da, kann am Berg tödlich enden.
Ja, vielleicht würden wir schon gerne am Campingplatz sein. Und wir können uns aufregen, bitter und nachtragend werden und die Umstände, die Leitung, die Mitreisenden, die Berge, die Bären und die gesamte Welt verfluchen, aber das ändert nichts an der Situation. Im Gegenteil. Es macht sie noch schlimmer.

 

Komisch. Dass wir das im „realen Leben“ so oft vergessen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum man im „wirklichen Leben“ das so oft vergisst, weil sich die Konsequenzen der Wirklichkeitsverneinung oft genug verzögern. Andere für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen, wieder mal ein Bier zu viel zu trinken oder die Probleme in der Beziehung übersehen zu wollen, rächt sich nicht immer mit sofortiger Wirkung. In der Wildnis kann das ganz anders sein.  Wahrheit verlangt eine gute Dosis an Demut. Nicht zu denken, man könne die Wirklichkeit problemlos verneinen oder verbiegen oder manipulieren, ohne dass sich das rächen werde. Wir sind nicht Gott. Und Gott sei Dank müssen wir es auch nicht sein. Vielleicht auch deswegen würde Jesus von Nazareth behaupten: Die Wahrheit wird uns frei machen.

(das ist Teil von einer dreiteiligen Serie)