Hochgeladen, sehr emotional, verhärtete Fronten. Wenn man in den letzten Tagen in einer Diskussion über die Flüchtlingslage eingebunden war, dann weiß man vielleicht, was ich meine. Ich biete dazu ein paar Handlungskriterien zur Unterscheidung der Geister an. 

Da ist zuerst einmal die Frage: Warum werde ich persönlich so emotional? Da geht es nicht darum, das Gegenüber zu beurteilen, sondern sich selbst und nur sich selbst. Jetzt nicht oberflächlich gesehen, sondern tiefer: Was kommt da in mir hoch und wieso? Ist es wirklich nur der Wunsch, das zu wollen und zu tun, wozu die Liebe Gottes antreibt, nur das zu verwirklichen, was einem von der Liebe Gottes durchtränkten Menschen entspricht? Die hochkommenden Leidenschaften sagen viel über das eigene Innere aus. Und nicht wenige Male findet man hier Indizien dafür, was noch dem Bereich des „alten Menschen“ zuzuschreiben ist, was gereinigt gehört, was mit der Liebe eben nicht vereinbar ist. Ärger, Wut, Zorn, Angst, Gleichgültigkeit. Was steckt wirklich dahinter? 

Ein zweites Kriterium – und das erste muss diesem zweiten standhalten:
Was sagt das Evangelium? Unterscheidet Jesus wirklich zwischen einem Becher Wasser für einen Christen und einem Becher Wasser für einen Heiden? Hat Jesus nur seinem Volk geholfen? Jesus setzt sich mit einem – für seine Landgenossen und seine Zeit geltenden – Tabu frontal auseinander … und bricht es. Nächstenliebe galt damals für die Juden, nicht für andere, geschweige denn für die Feinde des Volkes, schon gar nicht für den römischen Hauptmann, schon gar nicht für die Samariter, schon gar nicht für die Leute um Tirus und Sidon. Und noch krasser, Jesus kümmert sich um Prostituierte, er isst mit dem Volksverräter Zachäus, er ruft den mit den römischen Obrigkeiten zusammenarbeitenden Steuereintreiber Matthäus in seine engsten Reihen. Und eine Stufe des Krass-Seins weiter: Er stirbt für alle diese Menschen. Und so machen es alle wahren Christusnachfolger. Hat Mutter Teresa den Mann in der Gosse gefragt, ob er Christ, Hindu und Muslim sei? Hat Damian de Veuster nicht gewusst, was ihm passieren würde, wenn er ein Einwegticket zur Leprainsel Molokai einlöste? Hat Maximilian Kolbe gefragt, ob er sein Leben für einen Juden, einen Muslim oder einen Christen geben würde? 

Ein drittes Kriterium, um es mit Papst Franziskus zu sagen: Die Wahrheit besteht in einer Begegnung. An erster Stelle handelt es sich um eine Begegnung mit dem, der von sich sagt, er sei die Wahrheit, aber eben auch mit ihm, der uns erinnert, dass er im Angesicht des Nächsten zu suchen sei. Oder anders gesagt: Beim „Nächsten“ reden wir nicht nur von Lukas und Maria, sondern eben auch von Achmed und Nesrin. Gestern nahm ich an einer Sitzung der gemeinsamen Superiorenkonferenzen der Frauen- und Männerorden in der Diözese Wien und Eisenstadt teil. Es ging darum, gemeinsam Strategien und Ideen entwerfen, wie man in dieser Krise noch mehr helfen kann. Sehr beeindruckt und zugegeben zu Tränen gerührt war ich, als ich die Berichte der Mitbrüder hörte. 300 Flüchtlinge, die im Redemptoristen-Kloster im 1. Bezirk von Patres und Freiwilligen betreut werden, die Schotten, die Kalasantiner, die Karmeliter, die Jesuiten und und und … Geschichte um Geschichte der Großzügigkeit in der Nächstenliebe. Von einem weiteren Mitbruder, der die letzten beiden Tage nicht geschlafen hat, weil er mit 500 Flüchtlingen alle Hände voll zu tun hat, die in einem von seinem Orden der Stadt Wien zur Verfügung gestellten Gebäude vorübergehend leben. Von der Meldung auf meinem Weg zur Konferenz, dass die Pfarre Am Schüttel (Wien 2) soeben dringend weitere Helfer brauche, um 1000 dort untergekommene Flüchtlinge zu versorgen. Von vielen Ordenspfarren, die gerade in den letzten zwei Nächten, in denen die Grenzen zu Deutschland zu waren, alle möglichen kreativen Lösungen gefunden haben, um zu helfen, Notunterkünfte zu schaffen, den Menschen mit dem Notwendigsten beizustehen. Von 150 Flüchtlingen da, 250 Flüchtlingen dort, von einer bereitgestellten Wohnung da und in Hochgeschwindigkeit gebauten Waschräumen dort. Und überall hört man dasselbe: Wenn einmal die Menschen und auch die Ordensmitglieder in Kontakt mit den Flüchtlingen kommen, wenn Begegnung geschieht, wenn man nicht nur diskutiert, sondern Menschengesichter vor sich hat, horrende Geschichten zu hören bekommt, dem Elend und der Not in die Augen schaut, und, ja, hie und da forderndem Verhalten, aber auch genau dem Gegenteil begegnet, dann ändert sich nicht jeder Kritiker, aber eben viele. Wahrheit besteht in einer Begegnung. 

Ein viertes Kriterium. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee (vgl. Papst Franziskus, Evangelii Gaudium 231-233). Und das Wort ist Fleisch geworden. Man kann viel diskutieren, man kann viel herumreden, man kann einer Fussballmannschaft zujubeln oder sich über deren Spielart aufregen, ohne jemals das Spielfeld zu betreten. Ideen, die den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren, tendieren dazu, Ideologien zu werden. Das Wort ist aber Fleisch geworden. Es kann nicht anders sein, wenn sich jemand Christ nennen will. Mutter Teresa wurde einmal gefragt, was man den Großes tun könnte, um die Welt zu verändern, worauf sie dem Fragenden antwortete: „Sie können sich ändern und ich kann mich ändern, dann sind wir schon einmal zwei.“ Ich kann am Schreibtisch sehr viele Welten verbessern, die Frage bleibt, was mache ich denn wirklich? Mehr noch. Trägt das, was ich tue, dazu bei, die Liebe Gottes zu vergegenwärtigen oder nicht? Dieses Prinzip hängt übrigens eng mit der Subsidiarität zusammen: Es braucht die globalen Ansätze, aber die Politik alleine ist mit dem Problem überfordert. Das sieht man auch hier in Österreich, wo der Staat die Ersthilfe für die Flüchtlinge ursprünglich von einer Schweizer Firma managen ließ. Inzwischen sieht die Politik aber selbst ein: Ohne Caritas und Rotem Kreuz und Orden und Pfarren und dem einfachen Menschen auf der Straße, der seine Zeit und Energie und Kraft opfert, ohne diese alle geht es nicht. Man kann sich viel darüber beschweren, was der Staat alles falsch macht oder besser machen könnte. Die Frage ist aber: Was mache ich? 

Ein fünftes: Solidarität. Ein Prozent der Flüchtlinge weltweit kommt nach Europa. Nicht 20 Prozent, nicht zehn, sondern 1 %. Schon beeindruckend. Wir stehen vor dem Jahr der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist aber nicht nur ein Blick des Mitleids, so tief dieser Blick auch sein mag. Die Barmherzigkeit geht viel weiter, sie taucht in dieses Elend hinein, um daraus das Gute zu ziehen. Sie wertet auf, sie fördert den Menschen (vgl. Johannes Paul II., Dives in Misericordiae IV,6). Das muss auch gerade für mich als Ordensmann immer wieder ein Grund zur Gewissenserforschung sein. Bin ich ein praktischer Atheist, der angeblich an Gott glaubt, aber doch sehr bürgerlich geworden ist? Der nicht daran denkt, etwas von seinem Komfort aufzugeben, der schöne Reden über die Flüchtlinge hält, aber dessen Lebensstil sich nicht im Geringsten ändert? Die 99 %, die nicht hierher kommen, um die soll sich jemand anders kümmern! Sie sollen gefälligst woanders hingehen, mir ist egal wohin, solange es nicht hier ist, solange wir genauso schön weiter vor uns hinleben können, solange sie nicht unser soziales Gebilde, das wir uns ja in den 70 Jahren seit dem Krieg schwerst erarbeitet und so sorgfältig zusammengefügt haben, gefährden. Lasst uns Mauern bauen, je höher, desto besser!

Leidenschaft ist nicht schlecht, sie ist sogar sehr gut, wenn sie von der Liebe durchtränkt ist. Sehr schlecht wird sie dann, wenn ihr treibender Grund der Egoismus ist; die Unfähigkeit um der Liebe willen zu leiden; wenn es nur darum geht, die eigene Unsicherheit zu verbergen oder die Schutzmauern der eigenen Interessen weiter auszubauen; oder um die mangelnde Bereitschaft, über die Peripherie der eigenen Komfortzone hinauszutreten, solidarisch zu den Mitmenschen zu stehen, das Evangelium in all seiner aufrüttelnden Radikalität zu leben. Wenn es eine Leidenschaft für einen Christen geben sollte, dann doch eine solche, die Christus selbst hatte, das Leben für den Mitmenschen zu verausgaben. Die Flüchtlinge sind da und sie werden mehr werden. Die Frage wird sein, ob wir durch unser Leben, unser Tun und durch unsere Worte das göttliche Antlitz zu widerspiegeln vermögen (vgl. 2 Kor 3, 18- 4,6), davon Zeugnis zu geben: Gott ist Liebe.

 

Weil unsere Seite gehackt wurde und die Seite erst jetzt wieder online ist, erscheint dieser Beitrag in Verzug. Es war die Einleitung zum Regnum Christi Newsletter am 15.9. Weitere Blogbeiträge zum Thema: 

 

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