Laut und deutlich. So erschien es mir wenigstens. „Auf erhabenem Thron sah ich einen Mann, den die Engel anbeten.“ Diese Worte ruft uns die Kirche klar und deutlich im Eingangsvers der Messe in der ganzen „ersten Woche des Jahreskreises“* entgegen. Sodass wir es verstehen. Damit wir begreifen: Hiermit beginnt nicht nur die Messe, nicht nur das „normale“ Kirchenjahr und somit der Kirchenalltag, sondern das ist die tiefste, ursprünglichste und wichtigste Wirklichkeit, auf die es zu bauen gilt. Es ist der Eckstein nicht nur der Kirche, sondern für einen Christen, das Fundament seines Lebens, das, was ihm Sinn und Halt gibt. Es ist die frohe Botschaft.
Engel beten keine Menschen an. Eigentlich werden Menschen nicht angebetet. Oder? Vielleicht erinnert man sich an einen Menschen, der Wegweiser und Inspiration für das eigene Leben war oder ist. Vielleicht hat man vor gewissen Menschen Hochachtung. Vielleicht gibt es einen wichtigen anderen im Leben, für den man sogar bereit wäre, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Vielleicht. Anbeten würde man trotzdem keinen dieser Menschen, egal wie wichtig sie einem sind, egal wie verliebt man auch in einen Menschen sein mag. Aber Anbetung ist etwas ganz Anderes. Und doch. Da steht es. Klar und deutlich. Das ist ja das Ergreifende, Umwerfende, alle Erwartungen des Menschen Sprengende, das ist doch die Zündkraft des Evangeliums: Es gibt einen Menschen unter uns, der Gott selbst ist. Gott sucht eine Beziehung mit den Menschen, mit dir, mit mir, und zwar auf Augenhöhe. Ja, er ist der Herr. Aber er ist eben auch der Bruder – nur weil er dabei nicht aufhört Gott zu sein, heißt das nicht, dass er deswegen irgendwie weniger Mensch wäre. Jesus ist keine Mischung zwischen Gott und Mensch, so halb Gott, halb Mensch. Das ewige Wort, die zweite Person der Dreifaltigkeit, der ewige Sohn des ewigen Vaters weint, schläft, jubelt, leidet, fühlt, entscheidet, erfährt, erkennt, empfindet, liebt nicht wie ein Mensch, sondern als Mensch. Und weil dem so ist, weil er alles Menschliche in sich aufgenommen hat, weil er der vollkommene Mensch ist, versteht er den Menschen. Vor ein paar Tagen las ich diesen Satz aus einer der ersten Ansprachen des hl. Johannes Paul II.: „Heute weiß der Mensch oft nicht, was er in seinem Inneren, in der Tiefe seiner Seele, seines Herzens trägt. Er ist deshalb oft im Ungewissen über den Sinn seines Lebens auf dieser Erde. Er ist vom Zweifel befallen, der dann in Verzweiflung umschlägt.“ (22.10.1978). Das stimmte mich nachdenklich. Denn woran der Papst erinnern wollte: Jesus Christus kennt jeden Menschen und eigentlich kennt nur er den Menschen wirklich. „Er kannte sie alle … er wusste, was im Menschen ist“. (Joh 2,25) Er weiß um seine tiefsten Sehnsüchte, seine höchsten Hoffnungen und Erwartungen seines Herzens. Er ist uns nahe.
Ich weiß nicht, ob Ihr mal die Erfahrung gemacht habt, von einem anderen Menschen durch und durch gekannt zu sein. Ich meine nicht ein aufdringliches, beschämendes, ergreifendes, fast manipulatives von oben herabschauendes Ich-weiß-das-über-dich, sondern dieses ganz andere, fast überwältigende Bewusstsein, dass der andere mich kennt, aber auch walten lässt, dieser annehmende, fast kontemplative, tiefe Blick, der mir hilft, mich selbst tiefer zu erfassen als ich vielleicht jemals – sogar von mir selbst – erfasst worden bin. Dieser Blick, der zugleich nicht gleichgültig lässt und völlig herausfordert, weil er an die eigene Größe erinnert oder diese neu zeigt. Das inspiriert. Ich weiß mich verstanden, nicht nur weil der andere meine doch noch etwas an der Oberfläche liegenden Emotionen und Empfindungen nachempfindet und fähig ist, mir diese zu zeigen, dass er begriffen hat, wie es mir geht, wie es um mich steht, dass er in sich meine Erfahrung gewissermaßen nacherfahren hat, sondern eben auch, weil er auch auf fast geheimnisvolle Weise das in mir Tiefstliegendste mir vor Augen führen kann, sogar Tiefenebenen freizulegen fähig ist, die mir selbst noch verschleiert waren, weil er sich mit mir auf dieser tiefsten Ebene identifiziert, gewissermaßen mit mir in dem eins ist. Hier ist Erkennen von Liebe durchtränkt und lässt mich spüren: Schau, du bist so viel mehr als deine Zweifel und Komplexe und Sünden und Fehler!
Aber auch die soeben erwähnte Erfahrung ist nichts in Vergleich zu diesem Erkanntsein von dem einen Menschen, der Jesus Christus heißt und Gott ist. Auch wenn man diese vorherige Erfahrung hundertfach multiplizieren könnte, wäre das immer noch nur ein vager Schatten im Vergleich zu dem, was denjenigen erwartet, der sich nach und nach dem Blick Jesu auszusetzen wagt, der sich von ihm anschauen und erkennen lässt. Weil Jesus Christus Gott ist, führt die Begegnung mit ihm immer tiefer in sein eigenes tiefstes Geheimnis – und dadurch in das Geheimnis unseres eigenen Seins. Denn der menschliche Blick, der uns begegnet, birgt die ganze Tiefe Gottes selbst, denn das ist ja wer er ist. Nichts weniger als ein ewiges gegenseitiges liebendes Erkanntsein und Erkennen ist die tiefste Berufung des Menschen und das Verborgene in jede Sehnsucht nach mehr. Oder anders gesagt: Gott lädt uns zu einer Liebesbeziehung ein, die unsere kühnsten Vorstellungen unendlich übertrifft. Er will uns teilhaben lassen an diesem liebenden Erkennen zwischen Vater und Sohn im Heiligen Geist: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein… damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin.“ (Joh 17, 21.26) „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“. (1 Kor 13,12)
Es lohnt sich, auf diesen Weg zu gehen, zuallererst im Gebet, vor allem dann, wenn einem das Gefühl zuschreit, man müsse jetzt wegrennen, man müsse sich diesem Blick entziehen, dieser Blick, der ja gar nicht anders kann als verurteilend zu verfolgen, man müsse sich jetzt mit Feigenblättern umkleiden und sich vor ihm verstecken. Gerade dann, wenn man sich als am allerwenigsten liebenswürdig empfindet, gilt es mit aller Entschiedenheit genau das Gegenteil von dem zu tun, was einem die Versuchung einzuflüstern versucht. Es gilt sich direkt vor ihn hinzustellen, ihn anzuschauen, sich von ihm anschauen zu lassen, sich in seine barmherzigen Arme zu werfen, das eigene so verfehlt erscheinende Selbst in seinem Blick neu entdecken zu lernen und nichts und niemanden erlauben, den Eckpfeiler des Christlichen untergraben zu lassen: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen.“
Diese Liebe hat einen Namen: Jesus Christus. Ihn tiefer kennenzulernen, seine Liebe immer mehr anzunehmen, ihn immer mehr anzubeten… Das wünsche ich uns allen.
* Zum Verständnis: Nach der Weihnachtszeit, die mit dem Fest „Taufe des Herrn“ am 10. Januar endete, begann die katholische Kirche am 11. Januar das „normale Leben“, die alljährlich wiederkehrenden „Wochen des Jahreskreises“.
Das war meine Einleitung zum unserem 15. tägigen Newsletter. Den kann man hier abonnieren.
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