Wehe, Du hast eine andere Meinung. So erleben es manche, die in der aktuellen Flüchtlingsdebatte um einen sachlichen Ton in der Diskussion ersuchen. In meinen letzten beiden Blogbeiträgen habe ich mich sehr für eine Unterstützung der Flüchtlinge eingesetzt. Das tue ich auch weiterhin. Zugleich finde ich es schade, wenn z.B. in Facebook jemand persönlich angegriffen wird – und das noch auf niedrigste Art und Weise – einfach wenn er es wagt, einen Artikel zu teilen, in dem steht, dass nicht jeder, der angibt, ein syrischer Flüchtling zu sein, auch wirklich Syrer ist. Etwas ähnlich geht es einigen, die Angst haben, ihre Ängste und Sorgen zu teilen, um nicht gleich als Rassisten und Nazis betrachtet zu werden. Sicherlich gibt es Rassisten und Nazis, aber man ist nicht gleich einer, nur weil man einen ZDF-Bericht geteilt hat, der feststellt, dass in manchen Bereichen Deutschlands Parallelgesellschaften existieren, in denen Menschen ganz öffentlich Grundsätze der deutschen Verfassung nicht anerkennen. Darauf hinzuweisen, dass diese Menschen noch dazu deutsche Bürger sind, deutet nicht auf die nazistische Ausrichtung der Redakteure hin, sondern darauf, dass wir vor einem massiven Problem stehen, das nicht nur Integration betrifft, sondern die derzeitige Migrationspolitik im Allgemeinen.
Es stimmt sicherlich, dass man Schwarz-weiß-Denken vermeiden und die Fakten differenzierter präsentieren sollte. Da ist vor allem die Frage und auch Spannung zwischen sofortigen Hilfsmaßnahmen einerseits und langfristiger Integration andererseits. Die Frage, inwieweit diese überhaupt möglich ist, die Frage nach der Rolle des Einzelnen und die Rolle von Institutionen wie der Kirche. Auf einer anderen Ebene stellt sich die Frage nach der Rolle der einzelnen Staaten, der Europäischen Staaten und die Rolle der internationalen Gemeinschaft. Mir scheint in diesem Zusammenhang wichtig, dass man nicht einfach alles nach oben zu delegieren versucht – also Individuen zu Politikern, einzelne Staaten zur Europäischen Union, die EU zur internationalen Gemeinschaft. Vielmehr ist jeder in seinem Bereich aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen und das zu tun, was er tun kann. Der kleine Mann auf der Straße kann z.B. Soforthilfe anbieten, aber nicht auf europäischer Ebene eine Integrationspolitik konzipieren und in die Wege leiten. Viele der großen Fragen kann der einzelne natürlich nicht lösen, z.B. wie kann eine Art Völkerwanderung vermieden werden, die noch viel größere Dimensionen als bisher annehmen würde, weil fast ganz Afrika nach Europa kommen will, wie gehen wir um mit der Frage einer möglichen Islamisierung verschiedener Orte oder der Entstehung von Parallelgesellschaften, wie mit dem Wunsch eines Flüchtlings, nur ein bestimmtes Land anzusteuern, mit dem Problem der Verteilung auf alle Länder der Europäischen Union, wie kann direkt in den Herkunftsländern Unterstützung geleistet werden und wie lässt sich die Ausbeutung dieser Länder durch den westlichen Wohlstand (z.B. durch Organ- und Waffenhandel) beenden, etc. etc. Die Kirche selbst kann und soll sich in die Debatte über diese großen Themen einbringen, aber ihre Möglichkeiten zu handeln beschränken sich im Moment vor allem auf die Bereiche der Soforthilfe – wo sie hierzulande Großartiges leistet – und der Integration. Die Integrationsfrage wird meines Erachtens nach auch die entscheidende sein. Schaffen wir es wirklich, diese Menschen zu integrieren? Anders gesagt, die entscheidende Frage für die Kirche und für Leute wie mich und die meisten von uns scheint mir: was kann ich, was können wir gemeinsam tun, um diese beiden riesigen Herausforderungen zu bewältigen. Und da müssen wir anpacken.
Damit will ich aber nicht sagen, dass die anderen Fragen unwichtig wären, vielleicht sind einige dieser Fragen sogar noch wichtiger als die Soforthilfe- und Integrationsfrage. Wir können und sollen darüber sprechen. Diejenigen, die sich in einer Position befinden, wo sie die Macht haben, in eines dieser Themen Bewegung zu bringen, sollten es auch tun. Es braucht gerade jetzt von der Politik sehr viel Mut und Entschiedenheit. Aber eben auch viel Klugheit und Heiligen Geist, denn die Situation ist doch auch extrem komplex. Es tut mir wirklich leid, wenn sich durch meine vorherigen Blogbeiträge jemand verletzt gefühlt hat, der sich vielleicht sowieso schon ausgegrenzt sah, weil er Fragen aufwirft, die die gängige Meinung in Frage stellen, weil er sowieso schon sofort in ein „Schubladengefängnis“ gesteckt worden war. Aber mein Punkt bleibt der: es reicht nicht, dass sich höhere Instanzen über die großen Fragen Gedanken machen, niedrigere Instanzen müssen sich den entsprechenden Fragen auf ihrer Ebene auch stellen. Nach oben hin delegieren ist hier keine Option. Wir, Sie, ich, wir alle tragen eine Verantwortung, und gerade wenn man Christ ist, heißt das meines Erachtens nach in dieser Situation vor allem zweierlei: Erstens, dort zu helfen, wo akut Not am Mann ist und zweitens, die Projekte aufzubauen und zu unterstützen, die auf mittel- und langfristige Integrationsprozesse ausgerichtet sind.
Ein Letztes. Eine Mutter mit fünf Kindern hat alle Hände voll zu tun, diese Kinder in die Zivilgesellschaft einzuführen und zu integrieren. Sie zeigt uns zwar vor, wie Integration gehen kann, aber sie wird kaum Zeit finden können, um uns selbst bei der Integration der fünf Flüchtlinge zu unterstützen, außer vielleicht durch ihr Gebet. Ihr Beitrag für die Gesellschaft ist dennoch genauso viel wert. Die Art und Weise, mit der man sich mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzt, wird jeweils unterschiedlich ausfallen für eine Mutter, einen Studenten, eine NGO, einen Staat oder eine Vereinigung von Staaten. Wichtig bleibt dabei aber Folgendes: Einerseits darf der Staat sich nicht seiner Verantwortung entziehen, indem er sich ausschließlich kurzfristigen Lösungen widmet und dabei nur die nächste Wahl im Sinn hat. Anderseits darf der Einzelne sich nicht seiner Verantwortung entziehen, indem er sich ausschließlich langfristigen Lösungen widmet, die er sowieso nicht direkt beeinflussen kann. Der Staat kann sich hinter der Maske der Sofortmaßnahmen verstecken, um den größeren Fragen, für die staatliche Instanzen zuständig sind, auszuweichen. Der Mann auf der Straße kann umgekehrt dasselbe tun, indem er sich hinter der Diskussion über die großen Fragen versteckt, um so der Auseinandersetzung mit seiner Bereitschaft, konkret anzupacken, zu entgehen.
Anpacken, wo wir können, in der Weise, wie es in unserer Lebenssituation angemessen ist, das wünsche ich uns allen.
Titelbild: © Zerbor / Fotolia.com
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