Dass die Flüchtlingsfrage nicht gerade unkompliziert ist, ja einverstanden. Dass die IS auch Krieger nach Europa einschleust, wahrscheinlich. Dass sich unter Kriegsflüchtlingen auch Wirtschaftsflüchtlinge verbergen, sicherlich. Dass manche Flüchtlinge der Bezeichnung Flüchtling ein schlechtes Image geben werden, ja, so ist es eben (genauso wie übrigens manche Kirchenleute allen Kirchgängern, manche Familienmitglieder einer ganze Familie, manche Bankiers dem gesamten Bankwesen und manche Bürger einem ganzen Land einen schlechten Ruf verleihen können). Dass die Flüchtlingsproblematik nicht nur einer Aufnahme- und Willkommenspolitik, sondern eben auch einer Integrationspolitik bedarf, steht außer Frage. Dass es Flüchtlinge geben kann, die extrem unreif sind und hoffen, das sie in Europa alles bekommen, ohne das geringste dafür tun zu müssen, ja, ich kenne welche, die so sind. Dass diese Tatsachen Ängste und Sorgen hervorrufen können und vielleicht gerade deswegen daran erinnern, dass es um eine Suche nach tragfähigen Lösungen gehen muss: meine völlige Zustimmung.
Aber wie, bitte schön, kann man sich noch Christ nennen, wenn man ebendiese Tatsachen als Vorwand nutzt, um genau gar NICHTS zu tun, um keinen Finger zu bewegen, außer um ihn zu erheben und alle diejenigen zu kritisieren, die etwas tun, um echte Not zu lindern? Eine angenehme Ausrede, um sich nicht die Frage stellen zu müssen, was mache ich den eigentlich selbst? Jetzt bitte nicht falsch verstehen. In der Hitze der Wortgefechte dieser Tage kann es schon vorkommen, dass man einmal etwas sagt, das man vielleicht gar nicht so gemeint hat – und ich hoffe sehr und bete, dass manche Kommentare über die Flüchtlingshelfer nicht ernst gemeint waren! Vielleicht unbedacht fließt etwas über die Lippen, weil man unkritisch eine gehörte Meinung weitererzählt oder eine Einzelerfahrung verabsolutiert und diese dann das Kriterium wird, um alles andere zu erklären. Mir steht es natürlich nicht zu, irgendeine konkrete Person ins Visier zu nehmen und zu verurteilen oder sogar zu meinen, dass ich wüsste, was in ihm vorgeht. Das weiß er, das weiß Gott und nur vor Gott hat er es zu verantworten. Ich beziehe mich vielmehr auf eine verbreitete gesellschaftliche Herzenshaltung, eine Gesellschaftskrankheit. Und die soll man schon beim Namen nennen. Theodore Roosevelt tat genau das, als er am 23.4.1910 in einer Rede in der Sorbonne der Pariser Gesellschaftselite ins Gewissen redete und diese Krankheit so benannte: „Die billigste Einstellung zum Leben ist die…des Zynismus…Manche beschränken sich darauf, bei anderen zu kritisieren, was sie sich selbst nicht trauen…Aber es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht der Mann, der auf den starken Mann zeigt, wenn er stolpert. Das Verdienst gebührt jenem, der sich in der Arena befindet, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut befleckt ist, der sich anstrengt, der Fehler macht, der immer wieder zu kurz kommt – denn es gibt kein Bemühen ohne Scheitern; das Verdienst gebührt jenem, der wirklich danach strebt, Taten zu vollbringen, der großen Enthusiasmus kennt, der sich einer edlen Sache hingibt…“
Ich frage mich manchmal, wie viele von denen, die in den letzten Tagen hier in Wien so stark das Engagement all derer kritisiert haben, die etwas für die Flüchtlinge unternommen haben, ernsthaft mit diesen Menschen Begegnungen und Austausch suchen – und das eben nicht nur mit einem oder zwei, die dann wiederum das Kriterium für die Be- bzw. Verurteilung aller anderen werden. Wie viele dieser Kritiker sind der Christin aus Damaskus begegnet, deren Schwager geköpft und deren Mann von der ISIS entführt wurde? Wie viele haben sich mit Josef aus Eritrea unterhalten, der sein eigenes Urin trinken musste, um seine Wüstendurchquerung zu überleben – und das, nachdem er einem Konzentrationslager entkam, in dem die Regierung nicht-regierungskonforme Bürger verschwinden lässt, um dann deren Organe abzuernten und teuer in den Westen zu verkaufen? Wie viele dieser Kritiker hatten die Courage eines Thomas H., um einen oder mehrere Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen, mit ihnen das Leben zu teilen?
Hat Jesus als Bedingung für die Heilung den blinden Bettler gefragt, ob er Römer oder Grieche oder Jude oder Heide oder Gläubiger war? Hat er dem Gelähmten zuerst einmal eine Predigt gehalten, warum er in nur dann heilen wird, wenn er zuerst eine Garantie unterschreibt, sofort nach der Heilung in eine Abendschule zu gehen oder sogar in seinen Dienst zu treten? Hat Jesus einem Angehörigen des damaligen Erzfeindes der Juden, einem Römer, erklärt, warum er dessen Diener sicherlich NICHT heilen würde, da ja sie, die Römer, und vielleicht sogar noch er selbst, der römische Soldat, etwa 35 Jahre später ganz Judäa verwüsten würde? Hat er die Tochter des Synagogenvorstehers ihren Todesschlaf weiter schlafen lassen, weil ja Synagogenvorsteher prinzipiell schlechte Leute sein müssen? Hat er den Kontakt mit Zachäus vermieden, weil Zöllner ja Sünder sind? Und außerdem: In welchem Evangelium steht denn: du sollst nur dann helfen, wenn du einen Dank dafür bekommst, nur dann dienen, wenn du sicher bist, dass es dir zurückgezahlt wird, nur denjenigen unterstützen, der dich liebevoll behandelt? In meiner Bibel steht da eigentlich etwas ganz anderes. Da geht es um Helfen und Lieben, ohne Bedingungen. Da geht es um restlose Hingabe. Da geht es darum, die andere Wange hinzuhalten und die Extra Meile zu gehen. Da geht es um Nächstenliebe und um Feindesliebe. Da geht es sogar darum, dass Böses mit Gutem zu vergelten sei, den anderen höher einzuschätzen als sich selbst. Da geht es um Füße waschen und dienen und Leben geben. Leben geben. Was habe ich da gelesen? Vielleicht sollte ich es noch mal lesen: Leben geben. Ja, ich glaube, da habe ich richtig gelesen: Leben geben, auch wenn es mir zuweilen oder sogar sehr oft so unglaublich schwer fällt: aber das ist Christsein.
Jesus Christus stand nicht daneben, als die Menschheit in einer aussichtslosen Lage war. Er kam auch nicht einfach in die Welt, um uns nur Ratschläge zu erteilen, wie wir Dinge besser machen sollten. Er ist in das Feuer hineingestürzt, wurde selbst für uns am Karfreitag zur Asche, sodass das Ninive unseres eigenen Lebens nicht in Asche gelegt wurde. Er ging dorthin, wo der Blitz Gottes ihn treffen musste (wie es Hans Urs von Balthasar ausdrückt): zwischen die Gerechtigkeit Gottes und unser Verfehlen. Er stand nicht daneben, er war mittendrin. Manche würden hier einen Keil zwischen Interesse am Heil und Interesse am Wohlergehen eines Menschen treiben wollen. Nach dem Motto: Jesus hat sich um das Heil der Menschen gesorgt, nur darum sollte es uns gehen. Wer so denkt, hat das Evangelium nicht gelesen. Für einen Christen gibt es diese Trennung zwischen Leib und Seele nicht. Der Christ interessiert sich IMMER für den ganzen Menschen. Gerade das Evangelium vom heutigen Sonntag, die Heilung des Taubstummen, ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass die Not und das Leid dieser Welt dem Herrn nicht fremd waren. Er sucht heute Menschen, die genauso denken, genauso leben: Menschen, die sich nicht damit abgeben zu kritisieren, wie es andere besser machen könnten. Er sucht Menschen, die ihm zur Seite stehen, die mit ihm auf den Straßen dieser Welt gehen, die wirklich bereit sind, ihm nachzufolgen, auch wenn die Nachfolge auf dem Kalvarienberg gipfelt… sodass am Ende die Auferstehung in den Herzen der Menschen aufleuchten möge. Menschen, die sich von seiner Liebe für den Menschen, alle Menschen, jeden Menschen, den ganzen Menschen hineinziehen lassen, die Not lindern, wo Not zu lindern ist, die Liebe dort hinbringen, wo nur Hass und Gewalt herrschen, die Solidarität zeigen, wo Entfremdung und Spaltung Beziehungen, Familien und ganze Länder zerreißt. Menschen, die durch die anziehende Kraft ihrer Güte, Lauterkeit des Blicks, Geduld, Einsatz, Interesse, Zärtlichkeit und Hingabe einer zerbrochenen Welt zeigen: ja, die Liebe, die gibt es wirklich, die hat einen Namen. Für uns Christen hängt sie am Kreuz. Wo hängst du?
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