Die persönliche Vergangenheit durch Gottes barmherzige Augen betrachten

Wenn es stimmt, dass die Einstellung zur Gegenwart in der Berufungsfindung eine wichtige Rolle spielt, dann versteht man auch den folgenden Punkt. Barmherzigkeitslos den eigenen Lebenslauf zu betrachten lässt einen in der Vergangenheit stecken bleiben, kann alle Versuche, in der Gegenwart zu leben, lähmen. Ich begegnete einer verheirateten Frau mit zwei Kindern. Sie liebte ihre Familie, war jedoch total verzweifelt, weil sie spürte, dass sie doch ins Kloster hätte gehen sollen. „Das wird mir Gott nie verzeihen! Er kann es nicht, weil ich jetzt das Sakrament der Ehe eingegangen bin, bis der Tod uns scheidet!“ Eine verzwickte Situation. Doch wäre es eine schwerwiegende Verfehlung, wenn sie ihren Mann und ihre Kinder verließe, um ins Kloster einzutreten. Ganz zu schweigen von der Tragödie, die das für ihre Familie bedeuten würde und den Seelenschmerz, da sie ihren Mann und ihre Kinder innig liebt – und diese sie. Auch aus Gottes Sicht wäre es falsch. Sie aber meinte, sie befände sich jetzt andauernd in Sünde, weil sie in einer Situation lebe, die Gott nicht wollte: nämlich die Ehe. Eine Woche nach dieser Begegnung behauptete jemand in einer Diskussionsrunde, dass ein Mensch, der zum Priestertum berufen ist und dennoch heirate, nie wirklich glücklich werden könne. Aber das ist völlig absurd! Denn damit würde man behaupten, dass Gott alles heilen und jede Sünde vergeben könne, außer dem Nein zur Berufung. Der Berufungsverweigerer soll demnach ärmer dran sein als der Massenmörder? Gott kann also Tyrannen und Diktatoren, wie sie die Welt im 20. Jahrhundert erlebt hat, vergeben, nicht aber jemandem, der – aus welchem Grund auch immer – seiner Berufung nicht nachgegangen ist?

Es gibt für uns Christen keine hoffnungslose Situation. Für jemanden, der an Gott glaubt, existieren keine aussichtslosen Lebensumstände. Gott geht jeden Weg mit uns mit. Wenn er sogar das Leben eines Tyrannen ändern kann, dann kann er erst recht den Weg eines Menschen segnen, der sich für eine andere Berufung entschieden hat als jene, die ihm ins Herz gelegt worden ist, seinen Weg aber mit Gott gehen will. Doch wird die Fähigkeit, Gottes Gnade und Vergebung anzunehmen, den weiteren Weg entscheidend prägen. Gott kann aus dem größten Übel das höchste Gut herausholen und aus einem guten einen noch besseren Menschen machen – siehe Karfreitag.

Zurück zur Frau: Ihre Berufung besteht jetzt darin, als gute Ehefrau, als gute Mutter zu leben, sich in der Gesellschaft einzubringen, ihr Berufsleben verantwortungsvoll und in Übereinstimmung mit ihrem Familienleben zu gestalten. Besiegelt durch das Sakrament der Ehe wäre es für sie gänzlich verkehrt, den Willen Gottes woanders zu suchen. Sie kann eine große Heilige werden, wenn sie lernt, Gottes Vergebung anzunehmen und sich selbst zu verzeihen. Die Berufung wird nicht hoffnungslos zerstört, weil wir Menschen sündhaft sind. Gott lädt ein, aber sein Plan für uns nimmt unser Fehlverhalten in Kauf. Gott scheitert nicht, seine Pläne auch nicht. Das ist die Größe Gottes.

Diese Serie “Wohin? Finde deine Berufung!” entstammt dem Buch von P. George Elsbett LC mit dem gleichnamigen Titel, mehr auf www.wohinberufung.com/ Foto: Pixabay (Stand: 17.03.2015)