Die Erlösung des Herzens ist eine Reise ins Innere. Ja, das Herz kann verwundet sein. Ja, der Hang dazu, die Liebe in Egoismus zu verwandeln, ist allgegenwärtig und immer wieder eine Versuchung, die den Menschen zutiefst betrifft. Aber die Wunden sind nicht alles, sondern deuten vielmehr darauf hin, dass dieser Zustand kein Normalzustand ist. „Erlösung“ ist Erlösung von etwas. Erlösung bedeutet nicht nur die tiefen Wunden des Herzens zu entdecken, und auch nicht nur diese Wunden zu heilen. Es geht um den Glauben an die Macht der Liebe, darum, dass man allen Mut machen will, allen, die dem Menschen nicht mehr die Möglichkeit der inneren Freiheit und die „Freiheit des Geschenks“ zutrauen, die sich nicht mehr vorstellen können, dass es dem Menschen möglich ist, sich frei zu schenken, ohne dazu von innen oder von außen gezwungen zu werden – nicht von den Erwartungshaltungen des anderen, nicht von den eigenen Hormonen, nicht von der Sucht nach Bestätigung oder von sonst etwas oder jemand.

„Erlösung des Herzens“ will heißen, dass der Mensch mittels der Hilfe von oben die Fähigkeit hat, Herr über sich selbst zu werden. Das aber nicht nur in dem Sinn, dass er sich selbst und seine Triebe oder Hormone im Griff hat. Die Erlösung des Herzens geht weiter, denn sie bringt den Menschen dorthin, dass er nicht nur durch seinen Willen die Begierde zähmt und lenkt, sondern dass die Begierde selbst verwandelt und umgeformt wird. Das „erlöste Herz“ will und wünscht gar nichts anderes, als gemäß den Erfordernissen der Liebe zu handeln und zu sein, weil es von dieser Liebe durchdrungen ist. Das zerstört keineswegs die Wucht und die Kraft sexuellen Verlangens, im Gegenteil. Sexuelles Verlangen wird dort gesteigert, wo es von Liebe inspiriert und beflügelt, frei von Begierde ist – dort hingegen, und das ist höchst bemerkenswert,wo sexuelles Verlangen von der Begierde geleitet wird, neigt es dazu, abzustumpfen.

„wenn möglich bitte wenden“

Auf diesem Weg der Erlösung des Herzens sind vor allem zwei Schritte vonnöten. Der erste Schritt ist die Disziplin. Sie erscheint im ersten Augenblick als etwas Negatives, aber das ist sie nicht. Wenn jemand merkt, dass er gerade auf der Autobahn mit 260 km/h in die falsche Richtung fährt, muss er erst mal kräftig auf die Bremse treten, bevor er wieder in die andere Richtung fahren kann. Ich kann nicht einfach mit dem Finger schnippen und sofort die Richtung wechseln. Das wäre zwar sehr wünschenswert, aber das geht leider nicht. Ich komme um das Auf-die-Bremse– Treten und Die-anderen-Autos-Vermeiden nicht herum. Das sollte einen nicht frustrieren, auch nicht entmutigen, es ist einfach der notwendige Schritt, um in die andere Richtung fahren zu können. Mit der Erlösung des Herzens in Bezug auf die sexuellen Neigungen ist es ähnlich. Wenn man merkt, dass diese noch von der Begierde bestimmt sind, dann muss man zuerst „auf die Bremse treten“, bevor man sich eines von der Liebe beflügelten Verlangens erfreuen kann.

Wie tritt man auf die Bremse? Man bemüht sich um einen geregelten Lebensrhythmus, durch den man Extreme vermeidet, die einen sehr ermüden und anfällig für das Verstellen der wahren Liebe machen. Man räumt seiner Wochenplanung genügend Raum für körperliche Betätigung und mentale Entspannung ein (Freiheit hat ja mit dem Erkennen von Werten zu tun, für die man sich dann entscheidet; deswegen fällt einem müden Verstand und einem geschwächten Willen eine reife Entscheidung schwerer, als wenn er bei vollen Kräften wäre). Man vermeide Mutlosigkeit wie die Pest, steht von einem Rückschlag sofort wieder auf und geht weiter, setzt sich neue Ziele. Man trachtet danach, den Willen zu stärken. Der Wille ist wie ein Muskel, den man trainieren muss. Wer nicht fähig ist, jemand anderem eine Wohltat zu erweisen, obwohl er sich selbst schlecht fühlt, jemandem ein Lächeln zu schenken, obwohl er selber nicht gut drauf ist, einmal mehr Frühlingsrollen und weniger Schnitzel zu essen, um jemanden anderen eine Freude zu machen… der wird es sehr schwer haben, wenn es darum geht, seine sexuellen Tendenzen in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Liebe zu bringen. Und da das Problem der Begierde öfters auf den Egoismus zurückzuführen ist, auf eine übergroße Selbstzentriertheit, kann es sehr helfen, sich eher fremdzentriert auszurichten; zum Beispiel, sich bei einem karitativen Hilfswerk zu engagieren, jemandem Zeit zu schenken, Bedürftigen zu helfen usw. Auf die Bremse treten kann zuweilen echt herausfordern. Hilfe von außen kann da manchmal unterstützend wirken – zum Beispiel ein Gesprächspartner, mit dem man sich über Bremssysteme austauschen kann, in manchen Fällen wird sogar eine Therapie vonnöten sein. Der an Gott Glaubende wird zusätzliche Hilfe im Gebet finden.

Der Freiheitskampf

Der Kampf gegen die Begierde ist genau das: ein Kampf, der mit viel Ringen verbunden ist. Je mehr man sich aber diesem Kampf widmet, desto mehr wird man mit der Zeit merken, dass ein gewisser Friede bei diesem Ringen einkehrt. Man verspürt immer mehr eine innere Freiheit. Denn die „Erlösung des Herzens“ ist mehr als die bloße „Bremse.“ Ein Mensch, der sich selbst erfolgreich im Griff behalten kann, ist selbstbeherrscht, aber noch lange nicht tugendhaft. Selbstbeherrschung ist noch nicht Tugend, denn Tugend setzt das richtige innere Wünschen und Streben voraus – und das fehlt in der bloßen Selbstbeherrschung. Die Tugend ist der zweite Schritt auf dem Weg der Erlösung des Herzens. Sie verwandelt das Tun und das Wollen des Menschen aus einer inneren Überzeugung und Kraft heraus. Die Tugend wird nicht von außen auferlegt, sondern ist eine innere Richtschnur des Herzens, eine Haltung, die zum Erstrebten neigt. Sie wächst aber nicht, indem man darüber Bücher liest, sondern indem man sie übt. Tugend ist somit Resultat der freien Entscheidung für einen empfundenen, echten Wert und somit Zeichen für die innere Freiheit eines Menschen. Liebe wächst, indem man liebt. Und die Bücher? Diese können helfen, motivieren, unterstützen, aber die eigentliche Liebe wächst nur durch das Handeln in der Liebe.

Nun gut. Aber wie soll das gehen? Der Versuch, im anderen den ganzen Menschen zu sehen, dessen Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte. In der Beziehung vordergründig danach trachten, nicht sich selbst, sondern den anderen glücklich zu machen. Beim intimen Umgang die unterschiedlichen Erregungskurven respektieren, auf die Empfindlichkeiten, Ängste, Sehnsüchte des anderen eingehen. Niemals den anderen als Mittel für die eigene Befriedigung nutzen, sich einüben in den „inneren Blick“ der mehr sieht als nur den Körper, der viel mehr den Menschen in seiner Ganzheit und in seiner Würde betrachtet.

Für den Menschen, dessen Herz erlöst ist, wird es fast unmöglich, jemand anderen „mit Begierde“ anzuschauen, es kommt ihm gar nicht in den Sinn. Natürlich kann Tugend wieder verloren gehen, deswegen ist auch hier eine gewisse Bescheidenheit angebracht. Überheblichkeit, denken, man wäre irgendwie besser als jemand anderes, kann schnell zu unangenehmen Begegnungen mit der eigenen Schwäche führen.

All das ist möglich und keine Utopie, wie es so viele Menschen vorleben und beweisen. Das heißt, die Sehnsucht nach dem „Anfang“, von dem zu Beginn dieses Buches die Rede war, will Verheißung sein. Ja, Erlösung geht: echte, tiefe, „nackte“ Liebe „ohne Scham“, ohne Vorbehalte, ohne Selbstsucht. So eine Liebe sieht und bewirkt eine immer stärkere Integration zwischen dem Herzen und dem Verstand, dem Willen und den Emotionen, zwischen dem Geist und dem Körper. Die „Erlösung des Herzens“ macht die Freiheit der Selbsthingabe erst wirklich möglich und verleiht dem Ein-Fleisch-Werden seinen tiefen persönlichen Wert.

„Die Vollkommenheit des moralisch Guten besteht darin, dass man zum Guten hin nicht nur durch den Willen, sondern auch durch das „Herz“ und sogar gefühlsmäßig hingezogen ist. … unsere Leidenschaften werden von den Tugenden weder unterdrückt noch tyrannisiert. Sie „ordnen unsere Leidenschaften … sie ermöglichen Leichtigkeit, Selbstbeherrschung und Freude im Leben eines moralisch guten Lebens.“ (KKK 1770,1775,1804)

Wunden & Erlösung

Es lief mir eiskalt über den Rücken, als ich vor kurzem in der letzten Zeile einer Textnachricht folgenden Rat las: „Ich würde deshalb seufzend mal wieder ein paar Ideale begraben.“ Der Text bedeutete in seinem Kontext zwar etwas ganz anderes, aber ich musste sofort an diesen Beitrag denken. Die Wirklichkeit des Lebens holt einen doch immer wieder ein. Ideale werden begraben. Tiefgehende Wunden können lange tiefgehend bleiben. Außerdem, was heißt denn schon „Erlösung des Herzens“ für ein Missbrauchsopfer, oder für einen Menschen, der Objekt von Gewalt oder Willkür geworden ist? Man kann leicht reden, wenn man selbst so eine Situation nicht hat durchleben müssen. Eine Perspektive der Erlösung des Herzens besteht darin, daran zu erinnern, dass wir nicht im Paradies leben. Es stimmt ja: An mancher Situation könnte man verzweifeln. Eine „Spiritualität der Erlösung“ will aber ein Samenkorn Zuversicht säen. Sie will besagen, dass es einen Erlöser gibt, und der ist nicht die Eva und auch nicht der Adam und keiner von beiden muss es sein, Gott sei Dank. Außerdem bezeugt die Wirklichkeit der Schicksalsschläge: Sie sind fürwahr nicht Gott. Zugleich will aber eine Perspektive der Erlösung verheißen: Es gibt eine Macht der Erlösung, die die Fähigkeit des einzelnen Menschen übersteigt und zugleich in das Leben des Einzelnen hineinwirkt. Es gibt keine hoffnungslose Situation. Es gibt immer eine Zukunft, es gibt Heilung. Bodenhaftung verlangt Realismus. Nur besagt die Glaubensperspektive, dass ein Realismus, der diese Macht der Erlösung außer Acht lässt, schnell die Größe des Menschen und seine Liebesfähigkeit bezweifeln kann, dem Pessimismus zu verfallen droht, den Glauben an den Menschen selbst zu verlieren scheint. Eine Perspektive der Erlösung verleugnet die Wunden nicht, sie besagt nur, dass diese nicht das letzte Wort über den Menschen haben.

Dieser Blogbeitrag ist der 2. Teil einer „Theologie des Leibes“ Miniserie zum Thema „Erlösung des Herzens“. Der erste Teil ist hier nachzulesen.

Dieser Beitrag gibt einige Ideen aus dem 7. Kapitel meines Buches „God, Sex & Soul“ ergänzt und überarbeitet wieder.

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