Wie geht „kluge“ Entscheidung praktisch? Bei der Klugheit geht es darum, allgemeine Prinzipien ins konkrete Tun umzusetzen. Die Klugheit ist eine Tugend der praktischen Vernunft und wird wie jede Tugend durch regelmäßiges Training ausgebildet. Kluge Entscheidungen zu treffen lernt man nicht, indem man Bücher oder Artikel darüber liest, sondern im Tun.

Um eine kluge Entscheidung zu treffen….

1. Sei OBJEKTIV. Berücksichtigt die in Frage kommende Entscheidung objektive Werte? Lukas arbeitet für eine wohltätige Organisation, die eine Erweiterung um ein Zentrum für ehemalige Drogenabhängige plant. Unternehmer Uwe ist bereit, diese Erweiterung zu finanzieren, allerdings unter einer Bedingung, die einem Steuerbetrug gleichkommt. Keine gute Idee. Das ist sowieso klar? Ja sicher, eigentlich schon, aber wenn noch andere Werte (z.B. Hilfe für Drogenabhängige ist eine gute Sache) oder Emotionen (ich will z.B. unbedingt diese Schokolade, die aber nicht mir gehört, oder diesen Job, der aber nur dann zu haben ist, wenn ich zum Mobbing bereit bin, usw.) ins Spiel kommen, vernebelt sich zunehmend der objektive Wert.

2. ERINNERE dich. Fragen wie: „Wie habe ich früher in ähnlichen Situationen gehandelt, was habe ich daraus gelernt?“ können sehr hilfreich sein. Wer keine Fehler macht, ist tot, wenigstens geistig tot. Von Fehlern zu lernen, ist ein Zeichen von Klugheit. „Wenn du immer wieder das gleiche tust, wirst du auch immer wieder dieselben Resultate ernten“.

3. Sei LERNBEREIT. Meine eigene Entscheidung ist nur meine Sache, da soll mir niemand reinreden. Stimmt. Aber sich nur auf die eigene Weisheit zu verlassen und den Erfahrungsschatz anderer nicht zu nutzen – vor allem von Menschen, die offensichtlich immer wieder kluge und weise Entscheidungen treffen – tja, das ist einfach nur Dummheit. Zuweilen kann schon einfach die Frage weiterhelfen: „Was würde ein weiser Mensch (oder x, die/den ich sehr schätze) in dieser Situation tun?“

4. Sei BEWEGLICH. Zu lange andauernde Erwägungen werden zu verpassten Gelegenheiten. Oft genug führt es auch dazu, dass man überhaupt keine Entscheidung trifft. Man wird zunehmend ein Spielball von Umständen. Man wird gelebt statt zu leben. Diesen Aspekt der Klugheit kann man üben, indem man sich bei weniger wichtigen Entscheidungen nur kurzes Nachdenken erlaubt. Auch hier kann man von seinen Fehlern lernen. Zunehmend entwickelt sich ein Gespür dafür, was in der jeweiligen Situation klug wäre. Die Treue in der Tugend im Kleinen führt zur Ausbildung dieser Tugend im Größeren. Der Feind der Beweglichkeit ist der Perfektionismus: die Angst, man könnte einen Fehler machen, seinen eigenen Erwartungen oder denen der anderen nicht gerecht werden.

5. Nutze deinen VERSTAND. Welche Prinzipien kommen hier zum Tragen? Was sind meine Motive? Was sind die Auswirkungen dieser Handlung? Was sind die Umstände? Gibt es etwas, das ich bis jetzt nicht in Betracht gezogen habe? Wenn ich später auf mein Leben zurückschauen würde, was hätte ich in dieser Situation gerne getan? Welche Priorität hat das jetzt wirklich?

6. Suche das innere WACHSTUM. Hilft mir diese Entscheidung zu wachsen? Größe beginnt außerhalb der eigenen Komfortzone. Der Mensch findet nur dann zu sich selbst, wenn er über sich selbst hinaussteigt. Er wächst innerlich umso mehr je weniger er an sich selbst festhält, je mehr er sich selbst verschenkt. Seine große Versuchung ist es, ein Blickfeld und seinen Lebenshorizont auf immer kleiner werdende Interessensbereiche zu reduzieren. Ein „immer kleineres Glück um einen immer größeren Preis“ würde CS Lewis sagen. Und doch. Johannes Paul II. erinnert uns: „Christus… hat uns gelehrt, dass der Mensch vor allem ein Recht zur eigenen Größe hat, ein Recht, auf das, was ihn eigentlich überragt. Denn gerade hierin zeigt sich besondere Würde; hierbei offenbart sich die herrliche Macht der Gnade.“

7. Sei NICHT NUR SELBSTBEZOGEN. Geht es nur um mich? Das Zitat „Wo die Bedürfnisse der Welt und unsere Talente sich kreuzen, dort liegt unsere Berufung“ wird Aristoteles zugeschrieben. Menschen, die mich inspirieren, waren alles andere als Egoisten. Ob in einer Beziehung, in der Familie oder in einer Firma – es kommt früher oder später unweigerlich zum Konflikt zwischen den persönlichen Interessen und dem Wohl der Gruppe oder des Partners oder Freundes. Und dann muss man wählen: Will ich das Leben nur für mich selbst leben? Ist es z.B. in einer Beziehung mein Lebensprojekt, dass der Partner mich glücklich macht oder ist stattdessen mein Ziel, den Partner glücklich zu machen? Aspekte wie etwa die eigenen Talente sollen bei Entscheidungen z.B. bezüglich Beruf oder Berufung natürlich schon eine Rolle spielen, aber es wäre ein Desaster, wenn man bei dieser Wahl ausschließlich darüber nachdenkt, wie man sich darin selbst verwirklichen kann, wenn Fragen wie: „Was brauchst du? Was braucht die Welt?“ nicht vorkommen würden. Eine zu starke Betonung der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Talente in der Entscheidungsfindung können sogar ein gewaltiges Hindernis für eine kluge Entscheidung sein.

8. Nimm deinen INNEREN ZUSTAND wahr. In einem Zustand, den Ignatius von LoyolaTrostlosigkeit“ nennen würde, sollte man keine wichtigen Entscheidungen treffen. Jeder Bergwanderer weiß, dass man nicht im dichten Nebel den Weg verlässt. In Zeiten von Entmutigung und Traurigkeit, Unklarheit und Verwirrung ist es klug, erst einmal bei der Entscheidung zu bleiben, die man vor dieser Verwirrung getroffen hat. Ja, man kann und soll sich gegen Entmutigung stemmen, man kann und soll versuchen, Klarheit zu gewinnen, aber manchmal geht das nicht. Da solltest man warten, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft, die einem eine neue Richtung geben würde. Es gibt allerdings ein Caveat. Zuweilen ist es so, dass man, wenn man wirklich ehrlich mit sich selbst ist, ganz genau weiß, welche Entscheidung man treffen sollte. Angst, Mangel an Mut oder vielleicht auch an Liebe können verhindern, den Schritt zu tun. Das Problem ist hier aber nicht Unklarheit und Nebel, sondern, dass der Wille den Verstand dazu bringt, die eigentliche Lösung nicht zu sehen. Das wird als innerer Konflikt empfunden. Hier braucht es den Mut, der von der Liebe kommt: „Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht.“ (1 Joh. 4,18)

9. Be Free. Sei FREI. Freiheit heißt, über sich selbst verfügen zu können und nicht fremdbestimmt zu sein. Frei ist der, der nicht von seinen Trieben kontrolliert wird und auch nicht Spielball der Erwartungen anderer ist. Frei ist also der, der Herr über sich selbst ist. Gefühle, Emotionen sind genial, aber sie widerfahren dem Menschen und sind nicht Resultat einer freien Entscheidung. Ein „Ok, ich fühl mich jetzt gut!“ funktioniert nicht auf Knopfdruck, besonders wenn es einem gerade richtig schlecht geht. Liebe hat mit Freiheit zu tun (ich kann nicht jemandem sagen: hey, du musst mich jetzt lieben verstanden?), daher kann man auf der reinen Gefühlsebene gar nicht von Liebe sprechen – und eben auch nicht von wirklich freien Entscheidungen. Eine Entscheidung, die nur auf Emotionen basiert, ist nicht frei. Juckreizen nachzugeben, ist keine große Kunst. Das kann natürlich gut ausgehen, aber auch sehr schlecht. „Eine reife Persönlichkeit macht vollen Gebrauch vom Geschenk der Freiheit“ (Johannes Paul II.). Kleine Kinder geben Juckreizen nach. Daher ist das letzte Gebot so wichtig:

10. Schau auf deine SEHNSUCHT. Kommt diese Entscheidung wirklich aus dem Innersten meines Selbst? Ist es das, was ich wirklich will, entspricht sie meiner tiefsten Sehnsucht? Die tiefsten Sehnsüchte sind genau richtig – nur zuweilen sind sie etwas überladen mit Erwartungshaltungen, Egoismus, kleinen und größeren Süchten, Juckreizen, usw. Aber gute Entscheidungen werden dort getroffen, wo man diese Sehnsüchte ausgräbt und ihnen Raum schenkt.

Es gäbe noch ein 11. Gebot. Für mich als Priester befindet sich dieses Gebot allerdings auf einer anderen Ebene. Es durchdringt die anderen 10, schwingt sozusagen im Hintergrund mit: Triff die Entscheidung vor Gott, bitte ihn um sein Licht. Ob man das tut oder nicht, hängt natürlich vom eigenen Gottesbild ab. Wenn er der Spielverderber schlechthin ist, dann möchte man sich ihn ja sowieso möglichst vom Hals halten. Wenn er mich aber aus reiner Liebe geschaffen und einen genialen Plan für mich hat, dann tut es gut, ihn um die Gebrauchsanweisung zum eigenen Glück zu bitten sowie um den Mut, sie zu befolgen.

*Dieser Beitrag wurde verkürzt im Melchior veröffentlicht (Frühjahr 2017).

*Ich habe mich ausführlich dem Thema Entscheidung in Hinsicht auf die Berufungsfrage in meinem Buch Wohin? gewidmet.

 

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