Den Moment der Begegnung festhalten

 

Stellen wir uns vor, Matthias und Hannah treffen sich am Flughafen nach Monaten des Getrenntseins wieder. Sie fallen sich in die Arme. Was ist der erste Gedanke von Matthias, von Hannah? Wahrscheinlich nicht: „Endlich habe ich wieder jemandem, mit dem ich schlafen kann“, sondern eher einfach die Freude über den anderen. Was im Vordergrund steht, ist der andere selbst, nicht was der andere schenkt – auch wenn das gegenseitige Geschenk (Blume, in die Arme fallen, Geste, Worte usw.) der einzige Weg ist, wie man einander die Wertschätzung ausdrücken kann. Das ist nicht eine  Herabwürdigung des Geschenks, im Gegenteil. Es will zum Ausdruck bringen, dass es gerade diese Herzenshaltung ist („es geht mir um dich und nicht um mich, es geht mir ums Geben und nicht ums Nehmen“), die das Geschenk, und vor allem das Geschenk des eigenen Körpers, so umwerfend macht.

Natürlich unterscheidet sich Genesis von dieser Beschreibung. In Genesis finden sich Adam und Eva nicht wieder, sondern zum ersten Mal. Aber nur die Erfahrung des Wiederfindens ermöglicht es uns, einen gewissen Aspekt dieser Genesiserfahrung nachzuempfinden. Und zwar auf zweierlei Weise:

Erstens, der andere selbst – und nicht der persönliche Vorteil – verursacht die eigene Entzückung und Freude: „Endlich! Bein von meinem Bein…“. Das Nachempfinden des Moments des langersehnten Wiedersehens lässt erahnen: Es geht mehr um den anderen als um einen selbst.

Zweitens: Weil es im Buch Genesis um eine Urerfahrung geht, um eine Erfahrung des Anfangs, will das heißen: Diese Erfahrung durchwirkt nicht nur das ganze Leben von Adam und Eva, sondern ist als Sehnsucht jedem Menschen ins Herz geschrieben. 

Genesis beschreibt nicht nur so einen momentanen Zustand der Überwältigung, der Freude, über ein lang ersehntes Wiedersehen mit einem geliebten Menschen. Es geht in Genesis auch nicht nur um eine Herzenshaltung, die beide in einem Moment des Höhepunkts, einer Ekstase des Verliebtseins oder des „Ein-Fleisch-Werdens“ gegenüber sich selbst und dem Geliebten hegen. Genesis beschreibt einen Dauerzustand. Aber eben nicht einen Dauerzustand, in den sie einfach hineingeworfen worden wären, der aus dem Nichts hervorgerufen worden wäre und keine Vorgeschichte hätte.

 

Menschliche Reife & Vollgebrauch der Freiheit

Wie Johannes Paul II. einmal in Erinnerung rief: „Menschliche Reife bedeutet den vollen Gebrauch des Geschenkes der Freiheit.“ Aber voller Gebrauch der Freiheit heißt, dass man wissen muss, auf was man sich einlässt, man muss wissen, wer der andere ist. Und das ist eben ein Weg der immer tieferen Erkenntnis des anderen und einer immer tieferen Entscheidung für den anderen, nicht nur ein Augenblick. Die Eva und der Adam unserer Geschichte am weißen Strand (siehe den vorherigen Beitrag) sehen sich nicht zum ersten Mal. Ihr gegenseitiges radikales Sich-füreinander-Öffnen entspricht der Entwicklung ihrer Beziehung. Es fehlt an Freiheit, wenn man sich zu früh öffnet. Es fehlt an Freiheit, weil man sich dann nicht wirklich für etwas oder jemanden entscheidet, denn man kennt diesen ja noch gar nicht wirklich. Die Größe der Freiheit ist proportional zur Kenntnis, die man von demjenigen hat, für den man sich entscheidet. Je mehr man den anderen kennt, desto tiefer, bewusster, ehrlicher, reifer kann die Entscheidung für diesen Menschen sein.

 

Vorsicht bei der Frau, Verantwortung beim Mann

Vielleicht verlangt das gerade bei der Frau größere Vorsicht und beim Mann größere Verantwortung. Denn gewissermaßen geht sie beim SichÖffnen das größere Risiko ein. Da sie den Mann in die eigene Intimsphäre hineinlässt und dass dieses Öffnen vor allem in ihr große Spuren hinterlassen kann, ist schon auf der physischen Ebene offensichtlicher – zum Beispiel durch die Möglichkeit einer Schwangerschaft. Schon auf der physischen Ebene wird es ihm hingegen leichter fallen, vorzutäuschen, dass sein physisches Sich-öffnen auch ein inneres Sich-öffnen bedeutet, dass hinter seinem physischen Sich-geben auch ein Schenken seines ganzen Selbst steht. Sie öffnet ihm ihren Leib, nicht umgekehrt. Die Frau läuft sehr schnell Gefahr, wirklich eine Eva in obigem Sinne zu werden und daher braucht sie größere Vorsicht, um sicherzustellen, dass sie vor einem echten Adam steht. Vor kurzem bekam ich einen Brief, in dem eine junge Frau das zum Ausdruck bringen wollte:

Ich hab mit dem Jim (Name wurde geändert) einen Volltreffer gelandet, der wirklich tiefer sieht und der mich total wertschätzt. Aber dann sehe ich meine Freundinnen, die so tolle Werte haben und so eine Eva sind, die sich einfach ganz schenken wollen, bedingungslos, und die auf einen Adam warten, der sie in ihrer ganzen Würde annimmt und auch so behandelt. Und dann werden sie immer und immer wieder enttäuscht, weil sie eben nicht so angenommen werden, wie sie sind, auch wenn die Männer am Anfang so tun – aber es ist nicht mehr dahinter! Und immer wieder fahren sie ein, immer wieder ist es die gleiche Geschichte. Und dann sagt mir jemand, dass man sich öffnen soll und verwundbar machen soll… aber wenn ich an meine Freundinnen denke, dann würde ich ihnen grade das Gegenteil raten! Sich nicht zu schnell zu öffnen und viel mehr zu prüfen und auf sich aufzupassen… weil sie nach mehrmaligem Öffnen nur verletzt wie ein Häufchen Elend zurückbleiben… Ist es dann nicht fast sogar notwendig, dass sie sich verschließt, um sich selbst zu schützen?

 

Der Körper von Eva offenbart sie selbst

Also ja: Das Zusammenkommen verlangt Verantwortung, Wertschätzung, Respekt, Vollgebrauch der Freiheit und deswegen Reife. Das alles wird aber bei der Adam-und-Eva-Erzählung nicht geleugnet. Im Gegenteil. Genau das leben ja beide. Und an genau diese Sehnsucht nach solcher Beziehungsfülle will die Genesiserzählung erinnern, sie will ermutigen, dem eigenen Herzen immer mehr in dieser Richtung zu folgen. Eva wird nicht von Adam ergriffen, an sich gerissen, an sich gezogen. Natürlich sieht er die Unterschiede zwischen seinem und ihrem Körper, er betrachtet ja gerade ihren Körper in all seiner Schönheit. Aber das Erste, was er betont, ist nicht die Tatsache, dass es Unterschiede gibt, dass ihr Frausein sich ihm in ihrem Körper anders zeigt als sein Mannsein ihr in seinem Körper. Das Erste, was er betont sind nicht die Unterschiede von Gesichtszügen, Körperform und Geschlechtsorganen. Das sieht er natürlich alles, aber indem er es sieht, sieht er gerade dadurch tiefer.

Das Erste, was er nämlich betont, ist das, was ihnen beiden gemeinsam ist: ihr gemeinsames Menschsein, „Bein von meinem Bein“ – er sieht ein anderes „Ich“, er sieht den Körper eben nicht als Objekt der Befriedigung seiner Lust, sondern als Vergegenwärtigung des Menschen, einen „Jemand“, der ihm geschenkt wird und dessen Geschenk er annehmen will. Ferner ist es ihr Körper, durch den sie ihm als Person vergegenwärtigt wird. Eva ist kein Geist. In ihrem Körper ist sie ihm ganz konkret gegenwärtig. Sie wird ihm mittels diesen ihren konkreten Körpereigenschaften vorgestellt, die sie als Eva ausmachen. Diese Gesichtszüge, diese Haare, diese Körperform usw., das ist es, was ihm den Menschen, die Person Eva vor Augen führt. Ihr Körper wird zur Quelle, nicht der Begierde und des Besitzergreifens ihres Körpers, sondern des Überwältigtseins und der Ekstase über SIE, Eva (und nicht nur einen Teil von ihr). Das Sichtbare des Körpers vergegenwärtigt ihm das, was die Augen nicht sehen können, die Person, den Menschen, und eben gerade DIESEN Menschen, nicht einen anderen, sondern diesen Menschen, Eva in ihrer Einzigartigkeit und ihr Sich-ihm-Schenken, das Für-ihn-Geschenk-Sein. Und das alles nicht, weil sie außerhalb ihres Körpers wäre, so als wäre ihr Körper unwichtig, etwas, das sie hat und über das sie verfügen könnte. Nein, sie ist ihr Körper, ihr Körper ist der äußerliche Ausdruck ihrer selbst, ihre sichtbare Gestalt.  Und sie ist eben dieser Körper auch in seiner Begrenztheit – sie ist eben sie, und nicht jemand anders. Aber gerade das ist ja wieder für sie so überwältigend und auch für ihn, dass einer den anderen in seinem Körper annimmt, so wie er ist: Weder er noch sie müssen sich ändern, sich in einen anderen Körper verwandeln, um angenommen, aufgenommen und geliebt zu werden.

Warum Frauen, warum Männer?

Eva wird zu Adam geführt. Um das Genesis-Szenarium oder das Szenarium der Insel fortzuführen: Sie sind auf einer Insel gelandet, aber es war nicht ihre Idee. Adam wacht auf und findet sich als Mann wieder. Eva wacht auf und findet sich als Frau wieder. Dass sie allein auf der Insel gelandet sind und sich allein in der Welt als Mann und Frau finden, war nicht ihre Entscheidung. Adam konnte nicht und wollte auch nicht auf einmal Eva werden und sie konnte nicht und wollte nicht auf einmal Adam werden. Sie beginnen zu entdecken, dass ihr Mannsein und ihr Frausein ein Geschenk ist, das ihnen anvertraut worden ist, gemeinsam mit ihrem Leben selbst. Das heißt, die Erzählung im Buch Genesis will auf eine wichtige Frage hindeuten, die sich die Menschheit seit eh und je gestellt hat: Warum gibt es Männer und Frauen auf dieser Welt? Und Genesis versucht hier, mit einem einfachen Bild eine Antwort auf diese Frage zu formulieren: Eva wird Adam zugeführt und seiner Verantwortung anvertraut. Was will dieses Bild besagen? Vor allem dies:

Mann und Frau sind ein Geschenk füreinander und dieses Geschenk offenbart sich in ihrer Sexualität. Adam beginnt seine tiefste Bedeutung und Identität zu erfassen, als er vor Eva steht. Eva beginnt sich selbst dann zu verstehen, als sie vor Adam steht.  Im Einswerden, werden sie einander Geschenk, erweitern ihr Dasein, ergänzen einander, geben den anderen Möglichkeit Vater oder Mutter zu werden, „Mein Mann“ und „Meine Frau“ zu sein, die tiefere Dimension ihres Daseins zu erfahren, was sonnst völlig unmöglich wäre. Wo es ein Geschenk gibt, dort gibt es Freiheit, wo Freiheit, dort Liebesfähigkeit, wo Liebesfähigkeit, dort kann Gemeinschaft zweier Menschen entstehen.

Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel, bis er die Liebe entdeckt hat, die ihn zur Gemeinschaft befähigt. Aber die Entdeckung spielt sich über den Körper ab. Der nackte Mann entdeckt in der nackten Frau das Geschenk, dass sie für ihm ist und zugleich, das Geschenk, das er für sie sein kann. Und: er entdeckt diese Fähigkeit Geschenk zu sein, weil er ein Mann ist und weil sie, Eva, eine Frau ist. Seine Fähigkeit zu Lieben und durch seinen Körper Liebe auszudrucken entdeckt er durch seinen männlichen Körper. Ja, er selbst wird ihr Geschenk. Aber eben nicht abstrakt, Adam ist kein Engel, sondern ein ganz konkreter Mensch, und sein Einswerden mit ihr ist nicht nur ein biologischer Akt sondern ein personaler Akt, ein freier Akt (er musste es nicht tun aber wollte es, er ist nicht getrieben von Trieben, sondern von Liebe) der Hingabe nicht von irgendetwas, sondern von sich selbst. Seine Sexualität als Mann ist hier Ausdruck nicht von irgendetwas, das er besitzt wie seine Geldbörse, sie ist Ausdruck seiner selbst, seiner Identität: er IST Mann, sie IST Frau. Das heißt, er ist nicht nur rein zufällig mit einem männlichen Körper ausgestattet, er ist sein männlicher Körper, dieser Körper vergegenwärtigt ihm selbst zu sich selbst und zu Eva. Wenn er sich als Mann der Eva schenkt, dann schenkt er damit nicht eine Banane oder ein Moment der Befriedigung oder emotionale Zuneigung, sondern er wirft sich selbst ins Boot, er schenkt ihr sich selbst hin. Zuerst äußerlich, dann immer intimer, gemäß dem Stand der Beziehung. Der nackte Körper der Frau erweckt im Adam nicht die Begierde, kein „An-sich-reißen-wollen“ sondern die Wahrnehmung einer tiefen Sehnsucht, sich ihr zu schenken, ein Geschenk als Mann für sie zu werden. Er entdeckt die Liebesfähigkeit, die im männlichen und weiblichen Körper steckt, die aber in kein Stein, Baum, Moskito oder Waschbär vorhanden ist, weil keiner dieser Wesen frei ist und deswegen auch gar nicht lieben kann. Er entdeckt die unfassbare Würde der menschlichen Sexualität, die atemberaubende Schönheit dessen, was es heißt, Mann zu sein, Frau zu sein.

(Das ist der dritte von einer Serie von Beiträgen zum #TheologieDesLeibes Thema „Gemeinschaft“. Die Überlegungen sind eine Vertiefung und eine Weiterführung der Gedanken aus dem von mir geschriebene Buch: „God, Sex & Soul“)

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