24.12.1993. Also vor fast genau 30 Jahren. Es war der Eintritt ins Noviziat meiner Ordensgemeinschaft. Damals noch in einem kleinen Dorf namens Roetgen irgendwo bei Aachen. Es war äußerst ungewöhnlich zu Weihnachten einzutreten, aber das wäre eine andere Geschichte. Viel vom Noviziat kann ich mich nicht mehr erinnern. Kalt wars. Und nicht nur im Winter. Der Witz war, dass wenn in Restdeutschland doch die Sonne schien, es in Roetgen ein bisschen weniger regnete. Oder schneite. In den ersten drei Monaten glaube ich die Sonne gar nicht gesehen zu haben. „Wer das überlebt, kann alles überleben“, war die Devise. Und reich waren wir auch nicht gerade. Wir lebten in Stockbetten. Kinderstockbetten wohlbemerkt. Mehrmals krachte mein schwererer Zimmerkumpel vom oberen Bett zu mir hindurch. Bis ich vorschlug, wir könnten ja tauschen.

 

Aber die Stimmung war gut. Trotz allem. Trotz auch an allem, was wir erst viele Jahr später realisierten systemische Missstände gewesen sind…siehe Gründergeschichte. Dem allem gegenüber waren wir ahnungslos. Wir wollten einen Ruf nachgehen, den jeder auf unterschiedlicher Weise vernommen hatte. Wir wollten uns vorbereiten, möglichst gut vorbereiten auf das, was der Herr uns in die Hände legen würde. Und wir wollten den Herrn lieben. Mit der unverblümten, leidenschaftlichen, unerfahrenen Reife eines 18-Jährigen, oder in meinem Fall, 21-Jährigen.

 

Der älteste unter uns war 31. Aber er war die Ausnahme. Doktor in Physik und Schwarzgurt in Judo. Den Mercedes hatte er verschenkt. Einfach so. Das hat imponiert. Ein gestandener Zimmerer war auch dabei. Ein Mathefreak. Ein Überlebenskünstler aus Baden. Mehrere Maturanten. Ein Hubschraubeningenieur aus Amerika. Unseren „Ostdeutschler“ wollten die Kommunisten die Matura wegen dem Sticker auf seiner Gitarre „Ich gehe zur Kirche, kommst du mit?“ verbieten. Im Sport war er aber leider zu gut und so gings am Ende doch. Verrückt waren die alle nicht – nein! nicht die Kommunisten – ich meine die Kumpels im Noviziat.

 

„Et verbum caro factum est.“ (Und das Wort ist Fleisch geworden). Ich lege flach auf den kalten Marmorboden. „Kyrie Eleison!“ ruft gerade der Chor. Es ist der Beginn der Allerheiligenlitanei während der Priesterweihe. Es ist anders, wenn es die eigene ist. Zum Weinen hat sie mich aber schon immer gebracht. Ein sehr emotionaler Moment. Rom, der 24.12.2003. Also genau 10 Jahre nach meinem Eintritt. Göttliche Regie. So schien es mir wenigstens. Weihnachten hat für mich einen sehr priesterlichen Geschmack. Gott nimmt Fleisch an. Das ist das ganze Ding. So leicht gesagt. So abgrundtief.

 

In Jesus Christus werden Gottheit und Menschheit in der Einheit der 2. Person der Dreifaltigkeit verbunden. So der gemeinsame Glaube aller Christen. Das „Ego“, das „Ich“, das da zu uns in Jesus spricht ist die 2. Person der Dreifaltigkeit, ist Gott selbst. Wenn wir in seine Augen hineinschauen, dann sind es die Augen Gottes selbst, die wir da sehen. Er ist das Sichtbare, durch dem das Unsichtbare Gottes, sichtbar wird.

 

Vielleicht lässt das den einen oder anderen Skeptiker schmunzeln. Nur. Ich hätte meine Koffer schon längst gepackt, wenn ich das nicht mehr glauben würde. Nimm das weg, dann ist Jesus nur noch ein Lebensphilosoph mehr, der uns das gute Leben lehrt. Viel Spaß. Von denen hat die Welt genüge. Jesus lohnt es sich nachzufolgen, nicht weil er ein Weg unter vielen Wegen, ein Leben unter vielen möglichen Lebensentwürfen, eine Wahrheit, unter vielen Wahrheiten ist. „Der Weg, die Wahrheit, das Leben“ (Joh 14,6) – kann nur er behaupten an dem alle andere Wege, Wahrheiten und Lebensmodelle sich zu messen haben, weil er Gott ist. Nur dann macht „Jesus Christus“ und überhaupt Christsein Sinn. Wer das nicht erfasst, hat die Sprengkraft des Christlichen nicht begriffen.

 

Mir hilft manchmal der Vergleich der Träume oder Filme, wo man selbst plötzlich ein Adler ist und fliegen kann, obwohl das tiefste ich sehr wohl das eigene bleibt…nur dass man halt dies oder jenes als Adler tut. Der Vergleich hinkt. Ok. Aber mir hilft er trotzdem die Menschwerdung zu verstehen. Gott wird ganz Mensch. Der, der da isst und redet und leidet und liebt ist Gott selbst. Die Person, die da menschlich handelt, menschliche Erfahrung macht und als Mensch denkt und spricht, Wasser an einer Quelle schürft und Müdigkeit erfährt, ist der ewige Sohn des ewigen Vaters. Das gewaltige der Menschwerdung ist das wir einen Menschen jetzt unter uns haben, der Gott selbst ist. Er wollte an sich spüren und erleben, wie es ist, einer von uns zu sein. Er überbrückt die unendliche Distanz zwischen Gott und Mensch und verbindet beides, Gott und Mensch in die Einheit einer einzigen Person: Jesus Christus. Was in ihm wesenhaft und natürlich verbunden wird, wird jeden von uns als Angebot ermöglicht, durch das Geschenk seiner Gnade in der Taufe zuteil. Hier auch die unfassbare Würde jedes Menschen: seine Berufung ist es, „Sohn im Sohn“ zu werden…nicht nur Kind Gottes zu heißen, sondern wirklich am Leben Gottes selbst teilhaftig zu werden, vergöttlicht zu werden.

 

Das wird man an heilig-mäßigen Menschen besonders wahrnehmen. Du siehst sie und denkst dir: Boaaa…ich bin gerade einen Christen begegenet, der, die zeigt mir sichtbar, wer Gott ist. Das ist die „sakramentale“ Berufung jedes Christen.

 

Deswegen ist Christus das eigentliche Sakrament schlechthin. Weil er das sichtbare Zeichen ist, dass Gott nicht nur symbolhaft darstellt, sondern ist. Ein Sakrament macht Unsichtbares sichtbar, und wirkungsvoll gegenwärtig, deutet nicht nur zeichenhaft drauf hin. Die 7 Sakramente des Heils folgen nur die Logik der Menschwerdung Gottes selbst. Denn durch die Sakramente berühren wir ihm, werden berührt von ihm, kommen in Kontakt mit der allmächtigen Gegenwart des Herrn. Er ist zugleich Priester, Altar und Opferlamm.

 

Das Unerhörte ist geschehen. Jesus Christus wird zur Brücke, über die der Mensch gehen muss, um zu Gott zu gelangen. Er ist der eigentliche Priester, der Mittler zwischen Gott und den Menschen, „Denn einer ist Gott; einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: Jesus Christus“. (1 Tim 2,5) Aber krass: Priesterweihe als Sakrament heißt ja genau einverleibt werden in diesem Mittlersein Jesus, in seinem Brückesein, Hirtesein, in seiner Person das göttliche und das menschliche verbindende. Oh Priester: erinnere dich daran, was du bist: Sakrament: sichtbares Zeichen, der Jesus wirkungsvoll in dieser Welt gegenwärtig machen soll. Natürlich vor allem dann, wenn du in seiner Person handelst: „Ich vergebe dir“, „Das ist mein Leib“…

 

Kraft ihrer Taufe ereilt allen Gläubigen der Ruf sich priesterlich durch ihr Gebet, Opfer und Liebe am Erlösungswerk zu beteiligen. Dem Priester Kraft der sakramentalen Priesterweihe wird diese ihm nicht einfach als Vertiefung der Taufgnade hinzugereiht, sondern schafft etwas Neues in ihm, das vorher nicht vorhanden war, besiegelt ihm „zum Dienst vor Gott, um Gaben und Opfer für die Sünden darzubringen.“ (Hebr 5,1)

 

24.12.2023: 30 Jahre Ordensleben, 20 Jahre Priester. Ich bin sehr dankbar. Und ich glaube mehr – und hoffentlich tiefer – verliebt als damals. Und daran hat der Missbrauchskandal und die Dame die die Straßenseite wechselt, um ihr Kind von deinen Blicken zu wahren, oder der Typ, der einfach gleich vor dir auf die Straße spuckt wenn er dich sieht…weil du Priester bist… und der Ordensskandal und der Glaubensschwund und die Welt wird morgen enden nichts geändert. Und begeistert bin ich, nicht weil wir Priester alle dem, was wir Kraft der Weihe sind, so toll hinterherkommen oder alle so große Heilige wären oder so geniale und stabile Brücken – auch wenn ich dafür bete, dass wir es immer mehr werden dürfen. Sondern weil der Herr wirkt. Oft unscheinbar. An ungewohnter Stelle. Trotz der eigentlichen Unzulänglichkeit. In Bethlehem. Im Stall. In deinem Herzen. In seiner Kirche. Und wir dürfen mitmachen. Du auch. Wir alle.
Frohe Weihnachten!
P. George Elsbett LC