Masken fallen
„Masken fallen“. Das ist meine Antwort, wenn mich jemand fragt, warum wir schon wieder zeitgenössische Kunst in einer Kirche installiert haben. Damit meine ich, dass jemand, der sich wirklich auf das einlässt, was er dort vorfindet, eine unmittelbare Erfahrung macht, die anders nicht möglich wäre. Das ist so wie der Unterschied zwischen der Beschreibung eines Schwarzbärsteaks und der unmittelbaren Erfahrung, wenn man hineinbeisst. Ich erlebe es immer wieder: Menschen kommen in die Ausstellung, und anstatt dort irgendetwas über sich selbst zu hören oder zu lesen, erfahren sie es ganz konkret, werden manchmal davon regelrecht überwältigt. Das lässt sich nicht von außen aufdrängen, sondern passiert nur, wenn man sich darauf einlässt. Masken fallen. Man begreift etwas nicht nur mit dem Verstand, sondern erfährt etwas Tieferes über sich selbst und die Welt – und oft genug auf diesem Weg auch über Gott.
Mit diesen Gedanken im Hintergrund will ich in diesem Blogbeitrag eine erste Theologie des Leibes Betrachtung über die Kunstwerke anbieten, die sich in der aktuellen Ausstellung befinden.
Die Ausstellung INNEN raum
Die Grundaussage der Theologie besteht letztlich darin zu behaupten, dass das, was am meisten real ist, nicht in dem besteht, was man sieht, sondern in dem, was man nicht sieht – ein anscheinendes Nichts, das doch Alles ist. Der Theologe versucht, die Wirklichkeit zu entschlüsseln, nicht indem er sie in immer kleiner werdende Teilchen zerlegt, sondern indem er den Blick für das Wesentliche zu schärfen versucht, indem er dem überdauernden Grund auf der Spur bleibt, der alles trägt. Der Interpretationsschlüssel für die Wirklichkeit heißt für ihn Glaube, der im Kirchengebäude symbolisch dargestellt wird. Jetzt verhält es sich aber so, dass das Kirchengebäude ein Körper ist und zugleich den Gott-Menschen Jesus Christus selbst darstellen will (zB in der gotischen Kirchenform der gekreuzigte Christus). Wenn dem so ist, dann wird aber durch das Kirchengebäude nicht nur Christus verkörpert, sondern auch der Christ selbst, der aus der Sicht des Glaubens Glied Seines Leibes ist. Deswegen, aus einer Glaubensperspektive heraus, bietet der Körper Kirche, und gerade dessen Innenraum, einen Interpretationsschlüssel für die Tiefen des menschlichen Daseins.
Das Kleinste und doch das Größte
SUZIE LÉGER {Uterus = Space = Universe} 2007
Die Betrachtung des Inneren des Schoßes einer Frau in einem (außer Funktion befindlichen) Tabernakel scheint für die Theologie eine Provokation zu sein. Und doch. „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est.“ „Nicht eingegrenzt vom Größten und dennoch umschlossen vom Kleinsten, das ist göttlich.“ Das ist ein Satz, der dem Hl. Ignatius von Loyola zugeschrieben wird und für die Pastoral von Papst Franziskus eine große Rolle spielt. Der leere Schoß einer Frau, als anscheinend unbedeutendes Nichts, steht alleine inmitten des Weltalls. Aus theologischer Sicht kommen hier viele Themen ins Spiel: Freiheit und Zwang, menschliche Größe und Erbärmlichkeit, Liebe und Egoismus, Verfügbarkeit und Ausnutzung, Fruchtbarkeit und Sterilität, aber auch Zölibat und Fruchtbarkeit, Liebe und Hingabe, Demut und Mut, Vertrauen und Verzagtheit. In der mittelalterlichen Theologie wurde der Mensch als „Mikrokosmos“ umschrieben, er umfasst in sich den ganzen Kosmos im Kleinen. Warum? Weil er Abbild dessen ist, von dem der Theologe behauptet, dass er im Tabernakel gegenwärtig ist, ganz Mensch, der zugleich Gott ist, das Kleinste und zugleich das Größte. Oder, in den Worten von Johannes Paul II., „der Mensch ist das Wesen, das aus der Tiefe Gottes hervorgeht und selbst in sich so eine Tiefe in sich birgt, dass nur Gott sie zu füllen vermag.“
Nichts und doch Alles
Marina Abramović (Holding Emptiness) 2012
Gegenüber dem Werk von Marina Abramović befindet sich die Pietà. Der Tote in Händen der Jungfrau ist kein Zeichen der Hoffnungslosigkeit, sondern dessen Gegenteil. Das Leben selbst wird mit den Sterblichen bis in den Tod hinein solidarisch. Maria wird gerade im bittersten Leid Archetyp für jeden, der glaubt. Die in ihrem Schoß liegende und anscheinend vernichtete Basis allen Lebens durchschreitet den Tod und versetzt ihm, von innen her, den Todesstoß. Maria wird gerade so im Dunkel ihres Glaubens zum Hoffnungszeichen für alle, denen es so scheint, dass sie am Abgrund des Nichts angelangt sind. In diesem Kontext scheint „Holding Emptiness“ einzuladen: „Schließ deine Augen. Was hältst du denn wirklich in den Händen? Nein, nicht, das, was du offensichtlich siehst, nicht das Äußere, Sichtbare, nicht den Schein, nicht die Masken. Vielmehr brennt hier die Frage: Was ist der Gehalt deines Lebens?“ Und hier noch einmal in Gegenüberstellung zur Pietà: dort drüben, eine anscheinend „weggeworfene Existenz“ von der nichts übrigbleibt, führt zur Fülle des Lebens. Und hier? Führt vielleicht ein Alles-an-sich-Reißen, das Verdruss am Leben bringt, ins Nichts? „Holding Emptiness“ kann aber auch viel weniger dramatisch wirken. Im Kontext der Serie „With Eyes Closed I See Happiness“ ist es vielleicht einfach eine Einladung, sich daran zu erinnern, dass leere Hände nicht gleichbedeutend sind mit einem leeren Leben. Auf die Aufforderung, den römischen Obrigkeiten das ihm anvertraute Kirchenvermögen zu überreichen, soll der im August 258 verbrannte Märtyrer Laurentius dem Kaiser eine Schar von Armen, Verkrüppelten, Waisen und Leprosen vorgestellt haben. Äußere Leere oder Fülle scheint noch lange nicht innere Leere oder Fülle zu bedeuten und umgekehrt. Was ist denn eigentlich „Nichts“ und was ist „Fülle“?
Die Selbstfindung
Line Kondrup Meyer (You can stay for a bit longer) 2015
Bei einem ersten Blick auf das Meer wird man keine Amöbe entdecken. Mehr zu sehen bedarf größeren Bemühens und öfters auch mehr Zeit und Mittel. Theologisch gesehen ist es beim menschlichen Körper nicht anders, wenigstens was die Zeitdimension angeht. Tiefe Selbsterkenntnis braucht Zeit, vor allem Zeit in Ruhe, aber kein Mikroskop. Das erste Erkenntnismedium ist vielmehr der Körper selbst. „Der Körper ist Veräußerlichung des Geistes (Benedikt XVI).“ Der Mensch besitzt sein Körper nicht in auf dieselbe Art, wie er seine Geldbörse, sein Auto oder seinen Kamm besitzt: er ist sein Körper. Sein Körper vergegenwärtigt ihn selbst. Deswegen ist sein Tun eine Selbstoffenbarung. Schon die deutsche Phänomenologin Edith Stein würde aber daran erinnern: „In der reinen auf sich selbst beschränkten Selbsterfahrung ist die Person sich ungenügend.“ Der Mensch ergründet sich selbst letztendlich nicht. Er kann auch nicht völlig zu seinem tiefsten „Ich“ durchdringen. Und egal, wo er sich anzufassen versucht, ganz umschließen kann er sich nicht, er bleibt sich selbst ein Rätsel. Das, was hinter dem eigenen Namen steckt, bleibt unergründliches Terrain. Mehr noch, je tiefer er in sich selbst vorzudringen versucht, desto weniger findet er zu sich, wenn er wirklich nur bei sich bleibt. Karl Valentin soll es einmal humorvoller formuliert haben: „Man sagte mir, ich sollte in mich gehen, da erwiderte ich: da war ich schon, nur, da war nichts los.“ Edith Stein würde sagen, dass nur in der Beziehung – und letztlich in der Beziehung zu dem, der das eigene scheinbare Nichts vor dem wirklichen Nichts bewahrt – das eigene Ich seinen Boden findet, auf dem es stehen kann. Das heißt wiederum: „Um sich selbst in die Hand zu bekommen, muss man sich selbst loslassen.“ (Edith Stein).
Die Freiheit zu schauen
Bill Viola, Hatsu Yume (First Dream) 1981.
„You can stay for a bit longer“ – so das Werk von Line Kondrup Meyer. Damit ist ein Thema angesprochen, das beide Werke kennzeichnet, die sich am Übergang zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil der Kirche befinden: die Freiheit. Sich in den eigenen Innenraum zu bewegen, dort Erkundungen vorzunehmen, das ist Eigenrecht. Darauf hat kein anderer Anspruch. Im Kontext des Beichtstuhls kann Bill Violas Film eine Betrachtung des eigenen Lebens sein. Rückwärtsfahrende Lastwagen geben den Eindruck, dass es hier um eine Reise zu den Anfängen geht, und zwar vielleicht nicht nur die einer fernen, sondern auch einer unmittelbaren Vergangenheit. Das will man noch einmal näher anschauen und durchforschen, die Grundelemente genauer unter die Lupe nehmen: Licht, Schatten, Wasser, Leben, Tod. Zunächst einmal scheint es um Betrachtung zu gehen, ruhig, gelassen, einfach das wahrzunehmen, was ist, was sich darstellt. Man sitzt im „Beichtstuhltheater“ und schaut den Film des eigenen „Ichs“ an. „Bleib ein bisschen länger, wenn du willst“ – ob man das Theaterstück überhaupt anschauen will und was man damit macht, das ist jedem selbst überlassen.
Die Wunde
Leo Zogmayer / Stefan Zeisler (Untitled) 2015
Schönheit kann verwunden, gerade die Schönheit der Liebe, insbesondere wenn diese Liebe von Leiden für den Geliebten gekennzeichnet ist. Die Wunde der Sehnsucht wird so zur Tür, die den Geliebten aus sich selbst herausreißt, hin zum Liebenden. Darauf hatte schon Platon in Phaidros hingewiesen. Je größer die Wunde desto größer sind sowohl der Pfeil als auch derjenige, der den Pfeil geschossen hat. Die Schönheit der Wunde kann so stark verwunden, dass sie zur Ekstase führt. Liebe ist Ekstase, aber die Trunkenheit des Glücks findet sich nicht in der Versenkung in den Eros, (cf. Deus Caritas est, 6), sondern paradoxerweise geschieht dann gerade das Gegenteil. Dort, wo die Ekstase um ihrer selbst willen gesucht wird, verflacht sie und die Liebe verkommt zu Egoismus, da es nicht um den anderen, sondern um den Rausch geht. Dann werden keine Sehnsuchtswunden, sondern nur verletzende Wunden geschlagen, Wunden, die nicht mehr offene, sondern zu verschlossenen Türen werden. Ja, am Anfang ist Eros vor allem ein Ergreifender, er will mehr von dem, was er gerade bekommen hat. Aber mit der Zeit wird ein von Liebe durchtränkter Eros zu Verzicht, zur Gabe, will das sogar, das wird zu seiner Leidenschaft, denn es geht ihm dann immer weniger um sich selbst, sondern vielmehr um den Geliebten, nicht um das, was der Geliebte ihm schenkt. Und wo das geschieht, kann es zur Ekstase führen, da die Geliebte erkennt, dass sie um ihrer selbst willen geliebt wird. Das schlägt wiederum noch größere Sehnsuchtswunden, die den Geliebten dazu bringt, sich selbst und seine Wunden noch mehr zu durchschreiten, auf den anderen hin. Es gibt keine Selbstverwirklichung und Selbstfindung, ohne ein Sich-Verlieren und Sich-Loslassen. Und das sind Wunden, die auf den anderen hin durchschritten werden müssen. Aber wohin darf man sich den eigentlich wirklich GANZ verlieren, wem sich GANZ verschenken, ohne Angst haben zu müssen, sich letztendlich doch zu verlieren? Wohin, wenn nicht in den hinein, der uns zur Wunde geworden ist, die uns heilt? Wohin, wenn nicht durch diese Tür, durch ihn, der von sich selbst sagt: „Ich bin die Tür“? (Joh 10,9)
Die Heilung
Anonymous (Durch seine Wunden sind wir geheilt) 2015
Es wurde einmal gesagt, dass Verletzung des Herzens nur dort stattfinden kann, wo es Vergebung gibt. „Der Eros Gottes ist ganz und gar Agape“ (Benedikt XVI). Seine Leidenschaft lässt ihn leiden: „Dieses schmerzliche Verlangen nach dem Entbehrten, das Sehnsucht heißt, führt ihn dazu, sogar die Auswirkungen der menschlichen Verfehlungen am eigenen Leib spüren zu wollen: „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben.“ Die offene Wunde wird zur Tür zum Hochzeitszelt, in dem Versöhnung, Berührung, Heilung, Vermählung stattfinden kann. Dieses Leiden dreht sich aber nicht um sich selbst, Eros ist hier keine Sklaverei eines in sich geschlossenen Triebes, sondern führt zur „freiesten Tat der Freiheit“, der Hingabe. Die Wunde ist eine Tür, die zum anderen drängt, die immer dann befreiend wirkt, wenn sie durchschritten wird oder das Durchschreiten zulässt. Aus einer theologischen Perspektive wird die Verwundung Gottes, das heißt, gerade, das, wodurch der Mensch ihn verletzt, zur Begegnungsstätte mit den Menschen. Barmherzigkeit bedeutet dann: was Gottes Herz bewegt und erschüttert, ist gerade die Arm-herz-igkeit des Menschen, seine Not. Das katapultiert ihn auf den Menschen hin und offenbart die Absichtslosigkeit und Bedingungslosigkeit seiner Liebe. Seine Wunden werden zum Heil des Menschen und zum höchsten Garant, dass der Mensch nicht für sich allein stehen muss, sondern auf der Basis einer Beziehung, die ihn definitiv trägt, durch alle seine eigenen Wunden hindurch. Auch er, der Mensch, muss sich aber mit seiner Gebrochenheit und seinen Wunden öffnen. Um Heilung durch die Wunden zu erfahren, muss er seine eigene Verwundung zu DER Wunde hinbringen. In diesem Sinn stellt die Wunde eine Grenze dar, eine Tür eben. Das Aufreißen einer Wunde tut weh, aber nur so kann auch die Tür aufgehen, die zu einer Begegnung führt, die lebensspendend werden kann.
Kommt vorbei!
Am 20. März findet ein #TheologieDesLeibes Abend bei der Ausstellung statt. Herzliche Einladung.
Bilder: Titelbild: George Elsbett LC, weitere Bilder: Marton Hegedus, mit Erlaubnis.