Zerstörung des Selbstwerts durch Leistung

Johannes ist am Boden zerstört. „Wir sind nicht mit Ihrer LEISTUNG zufrieden“, hatte ihm gerade der Betriebsrat vorgeworfen. In dieser Abteilung wird er nicht weiterarbeiten dürfen. Solche Situationen sind Alltag und passieren ständig. Immer wieder scheinen sie die Macht zu haben, Menschen in ihren Grundfesten ernsthaft zu erschüttern oder sie gar zu zerstören. Sie werden depressiv, verlieren ihre Motivation, flüchten immer häufiger vor der Wirklichkeit in die digitale Welt, in den Alkohol, ins Shopping, ins Gaming. Natürlich kann es abgesehen von den Erfahrungen, die man im Beruf macht, noch unzählige andere Auslöser dafür geben, dass jemand seinen Selbstwert in Frage stellt oder gar verliert. Besonders häufig passiert so etwas in Paarbeziehungen. Kein Wunder. Besonders dann, wenn man sich selbst durch die Anerkennung des Partners definiert.

Was Leistung nicht geben kann

 

Aber was macht denn eigentlich den Wert eines Menschenlebens aus? „Der Wert eines Menschen hängt von seinem Tun ab. Du bist, was du leistest.“ Von den wenigen Dogmen, die es heutzutage noch gibt, ist dieses „Leistungsdogma“ vielleicht das dominierendste und zugleich gefährlichste überhaupt. Ach so, das hätte man ja wissen sollen. Vielleicht kann hier die Theologie des Leibes etwas Licht hineinbringen, auch wenn sie zunächst eher das Gegenteil zu sagen scheint, denn sie kämpft schließlich gegen jegliche Form des Dualismus nach dem Motto „Fleisch schlecht, Geist gut.“ Also gegen einen Dualismus, der irgendwann, wenn nicht sogar ziemlich rasch, dazu führt, dass man den eigenen Körper gar nicht mehr ausstehen kann. Nichts jedoch könnte einer christlichen Weltanschauung nach der „Fleischwerdung“ Gottes ferner liegen als Leibfeindlichkeit. Aber, und das ist ja der entscheidende Punkt, ist es nicht gerade dieser Dualismus, der es uns erlaubt, zwischen dem Tun eines Menschen und seinem wahren Selbst zu unterscheiden? Wenn der Mensch sein Körper IST und nicht einfach einen Körper HAT, über den er nach Belieben bestimmen kann, wie kann ich dann unterscheiden zwischen dem, was der Mensch mit seinem Körper tut und seinem Selbst?

Ich würde sagen, man kann es eben nicht. Denn wenn wir unseren Körper besitzen, wie ich ein Schuh oder einen Stift besitze, dann hat der Körper auch nur insofern einen höheren Wert als ein Stift, als er dem Besitzer einen mehr oder weniger größeren Nutzen bringt, als der Stift das tut. Sein Wert wäre dann proportional zu seinem Nutzen. Mit unserem Körper aber ist das ganz anders, gerade weil wir ihn NICHT besitzen, sondern weil dieser Körper unser Selbst vergegenwärtigt und IST. Das heißt, das menschliche Tun bedarf einer völlig anderen Bewertung als z.B. das eines Mosquitos. Ein Mosquito kann ich zerquetschen, wenn es mich stört, einen Menschen nicht. Was man so alles mit seinem eigenen Körper tut, mag zwar störend oder sogar verwerflich sein, aber der menschliche Körper ist immer mehr als nur eine mechanische Abfolge von bio-chemikalischen Prozessen, eben anders als bei einem Mosquito. Der Mensch offenbart sich zwar durch sein Tun, ist aber immer mehr als das, was vielleicht gerade stören kann. Der Körper ist die Vergenwärtigung des Menschen selbst, in einer tieferen Dimension als sogar er selbst es jemals zu begreifen vermag.

Woher kommt die Größe des Menschen – von Leistung?

An dieser Stelle drängt sich jedoch die Frage auf: woher kommt diese Tiefe? Was macht dieses Körper-Geist-Wesen, das wir „Mensch“ nennen, so einzigartig unantastbar? Weihnachten will darauf eine Antwort geben. „Oh Mensch, erkenne deine Würde!“ Die „Fleischwerdung“ Gottes erinnert den Menschen an seine ihm eigene Größe und Würde: er hat diesen Wert, egal welche Hautfarbe, egal ob Heiliger oder Verbrecher, egal ob jung oder alt, egal ob leistungsfähig oder nicht, weil sein Körper im Unterschied zum Mosquito liebesfähig ist und damit auch fähig, von Gott selbst geliebt zu werden, Gott, der selbst für ihn mit seinem eigenen Leben bürgt, selbst sein Leben für ihn gibt und damit aussagt, du hast eine solche Würde, dein Wert ist so groß, dass anscheinend dieser Gott selbst dir einen höheren Stellenwert gibt als seinem eigenen Leben. Der Wert des Menschen besteht eben nicht in seiner Leistungsfähigkeit, sondern in der Tatsache, dass er Objekt der leidenschaftlichen Liebe Gottes ist.
Aber das alleine ist noch nicht genug. Man muss noch einen Schritt weitergehen. Denn die Menschwerdung sagt noch mehr, nämlich Folgendes: Gottes Liebe ist kein „Ach, ihr armen kleinen Würstchen dort unten. Ich werde euch lieben, egal was passiert, euer Tun ist mir nicht wichtig, da stehe ich weit drüber, das lasse ich auch nicht an mich heran.“ Nein. Es geht nicht um eine Liebe, die demütigt, sondern um eine Liebe, die erhöht, befähigt, Würde verleiht. Der menschliche Körper ist in Jesus Christus zur Offenbarung Gottes geworden und lässt den Menschen die Größe seiner eigenen Berufung erkennen, zeigt ihm ganz neu, zu was er eigentlich fähig ist. Die Erlösung besteht nämlich in einer Verwandlung des Menschen, seiner Fähigkeiten und seines Tuns. Gerade die Heiligen führen uns das vor Augen, sie selbst werden in ihrer Körperlichkeit zu Offenbarungen Gottes, sie zeigen sein Gesicht in dieser Welt, sie zeigen, zu was der Mensch fähig ist, wenn er sich einlässt auf das Wirken Gottes in seinem Körper. „Verherrlicht Gott in eurem Leib“ (1 Kor 6,20) würde Paulus ausrufen.
Die Quelle dieser „Befähigung“ liegt aber nicht in der Leistungsfähigkeit des Menschen, sondern in der ihm im Weihnachtsgeschehen zuteil gewordene Gnade (Geschenk, Gabe), eines Gottes, der das „Fleisch“ eben nicht gering achtet, sondern es selbst annimmt und dadurch erhöht und Weg, Wahrheit, Leben für uns wird. Zu dieser Quelle zurückzufinden, darin besteht der Sinn des Advents. Ein Kind in einer Krippe, das erstmal gar nichts leistet, sondern sich nur lieben lässt, ist nicht nur Mahnmal, sondern Wesen des christlichen Weges. Sich von Gott lieben lassen, um sich aus dieser Liebe heraus verwandeln zu lassen zur wahren Größe in ihm. Das wünsche ich uns allen!