Diese Karwoche wird einen bleibenden Impact in meinem Leben haben, in dem Maß, in dem ich begreife, wer zu Beginn der Karwoche in Jerusalem auf einem Esel hineingeritten ist.

Ich kann den Palmsonntag, das mit dem Einzug in Jerusalem, rein psychologisch deuten, es als einen Archetyp des menschlichen Wachstums verstehen. Jerusalem, das bist du, das bin ich. Eine Idee kommt von außen, durch einen Freund, einen Bekannten, einen Umstand … und wühlt alles in mir auf … es stößt die Geldkassen im Tempel um und schmeißt die Verkäufer aus dem Tempel hinaus … Ich will die Idee nicht zulassen, es entsteht ein Ringen in mir, und ich schaffe es vielleicht sogar, den Anstoß, die Anregung, die Inspiration umzubringen … und es bleibt alles wieder beim Alten. Es entsteht null Wachstum, ich habe es geschafft, von der Verantwortung zurück in die eigene Komfortzone zu flüchten und jegliches Opfer zu vermeiden … Aber manchmal schaffe ich es doch, dass das Alte in mir abstirbt, dass ich mich durchgerungen habe, das Neue zuzulassen, dass persönliches Wachstum entstanden ist, dass die Idee vom Toten aufersteht, dass sich da neues Leben in mir gebildet hat. Und diese Idee hat eine gewisse göttliche Würde – warum sollte ich mich sonst vor ihr beugen? – wegrennen hilft nichts, Frieden habe ich nur, wenn ich mich der Idee hingebe.

Der Christ würde diese Vision des Evangeliums vom Palmsonntag nicht abstreiten, aber es wäre ihm bei Weitem zu wenig. Man kennt die Ideenwelt von Platon. Er meinte, es gäbe irgendwo einen perfekten Stuhl und ein perfektes Pferd und einen perfekten Baum, der uns als Kriterium dient, um überhaupt sagen zu können, dies oder jenes sei ein Stuhl oder Pferd oder Baum. Der Christ würde sagen, naja, es stimmt nicht wirklich, außer in einem Fall: mit Jesus Christus. Um zu begreifen, was Menschsein heißt, muss ich auf Jesus schauen.

Mehr noch, um im Letzten überhaupt irgendetwas zu begreifen, musst du auf Jesus schauen. Und genau darum geht es in der Karwoche: „Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ (Joh 19,37; Sach 12,10; Offb 1,7). Das nennt man auch „Glaube“.

Ich verstehe einen Witz erst dann, wenn ich das Muster verstanden habe. Die Behauptung des Christlichen ist die: Ich verstehe die gesamte Wirklichkeit überhaupt erst dann wirklich, wenn ich Jesus begriffen habe. Natürlich kann ich auf die Welt als Physiker oder Biologie oder Soziologe schauen … aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass sich mir die letzte Bedeutung der gesamten Wirklichkeit nur dann erschließt, wenn ich sie durch das Muster Jesu sehe. Weil „im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1) (im Griechischen steht für „Wort“ „Logos“ – der Sinn, die Bedeutung), das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. „Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, das geworden ist.“ (Joh 1,3). Die gesamte Wirklichkeit trägt als tiefste Prägung die der zweiten Person der Dreifaltigkeit, die in Jesus Christus Mensch wurde. „Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand.“ (Kol 1, 16-17) Das will sagen, dass Moskitos und Quarks und Galaxien und Kopfschmerzen und Corona-Viren und Firmenpleiten und Beziehungen sich durchleuchten lassen, in dem Maß, in welchem du auf Jesus schaust. Aber:

Jesus ist für den Christen nicht einfach eine Idee. Er ist nicht einfach Quelle moralischer Verhaltensnormen oder Lebenshilfe. Jesus ist keine Theorie, sondern historische Person. Ja, er ist der Archetyp des Helden, aber eben nicht, weil er das Muster des Heldenseins wiederholt, sondern weil er der Grund ist, warum es überhaupt das Heldenmotiv gibt. Ja, Jesus ist Archetyp, aber der, der wirklich historische Gestalt annahm. Wirklich in Jerusalem eingezogen ist, wirklich dort gelitten hat, gestorben und auferstanden ist. Jesus ist nicht einfach eine neue Wiederholung des Musters oder des Archetyps, sondern ohne ihn gäbe es kein Muster und keinen Archetyp. 

Oder mal anders gesagt: Du kannst die Karwoche nicht wirklich verstehen und was da abgeht, wenn du nicht begreifst, wer Jesus wirklich ist. Das Maximalistische, das Anstoßende, das Radikale, das Aufwühlende des christlichen Glaubens besteht in der Behauptung, dass der historische Jesus Gott selbst ist. Das heißt, dass es einen Menschen unter uns gibt, der Gott ist. Und dadurch ist er der Archetyp, der uns zeigt, was es heißt, Mensch zu sein.

Und das will sagen, dass der Grund, warum wir Firmen bauen und Berge besteigen und Beethovens „Neunte“ komponieren und nach 6.000 Frauengeschichten (Michael Jagger) immer noch mit unseren über 80 Jahren ins Mikro schreien „I cant get no satisfaction“, der ist, dass dieser Gott Mensch wurde, sodass wir in einer ewigen Liebes- und Lebensgemeinschaft mit ihm leben würden und nichts weniger als das uns jemals zufrieden stellen würde. Um jeden Versuch, diese atemberaubende Größe und Schöne und Weite des Menschen zu vergessen, ist einfach ewig schade.

Der Grund, warum man Jesus ans Kreuz geschlagen hat, war genau der, dass er behauptete, Gott zu sein. Und deswegen, wenn er sagt, er sei die Wahrheit, ist das dann nicht so zu verstehen, als würde er sagen, er hat ein Teil der Wahrheit oder sagt uns etwas über die Wahrheit. Sondern ohne ihn gäbe es die Wahrheit nicht. Er ist die Wahrheit, an der sich jede andere Wahrheit zu messen hat.

Das ist auch der Grund, warum Paulus so viel Zeit im Gefängnis verbrachte und warum die staatliche Obrigkeit über ihn die Todesstrafe verhängte. Denn er ging um das gesamte Römische Reich umher und rief in die Welt hinaus: „Christus Jesus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave […] damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr“ (Phil 2,6-11) … aber die Römer sagten, der Kaiser sei der Herr, der Kyrios, ein Gott, den alle anzubeten hatten. Auf einmal lief Paulus herum und sagte: Nein! Nicht der Kaiser ist die höchste Macht, auch er hat sich zu verantworten vor einer größeren Macht. Es ist sein radikales Bekenntnis zur „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,21), weil Paulus es nicht vorhatte, seine Knie vor irgendetwas oder irgendjemand anderes zu beugen. Das machte ihn gefährlich. Er war nicht so leicht zu manipulieren. Man konnte ihn nicht durch politische Machtspiele oder sonstige ideologische Moden vereinnahmen.

Ich glaube, für die Christen unter uns ist es gut, dass wir das nicht vergessen. Das ist das Kantige, das Eckige, das Anstößige des christlichen Glaubens. Das fliegt ins Gesicht jeglicher postmodernen Ideologie, die besagt: Du entscheide, was wahr und falsch ist! Du entscheide, was richtig für dich ist! Du entscheide, was deine Identität ist und wer du sein willst! Du entscheide, was dich glücklich machen wird und was nicht! Du musst nur dich selbst finden.

Der Christ könnte nicht entgegengesetzter denken. Der, der dich rettet, reitet von außen in deine Stadt hinein. Du bist nicht dein eigenes Glückes Schmied. Du bist nicht selbst die Quelle deines inneren Friedens und schon gar nicht deines Lebens … Und du musst es auch gar nicht sein. Das überfordert. Und wenn wir das vergessen, dann ist Jesus ein netter Typ mit langem Haar und Lippenstift, der uns nette Dinge sagt und meint, wir sollen doch nett zueinander sein. Dann stehe ich auch gewissermaßen über ihm, ich werde ihn annehmen, im Grad und zu dem Punkt hin, der mir passt. Und ich streue noch ein wenig Buddha und Lao-Tse und Konfuzius und Gandhi dazu und bastle mir meinen persönlichen Glauben, wir er mir halt gerade passt.

Und dann ist das Evangelium vielleicht hier und da Quelle ein paar interessanter Gedanken, aber im Letzten ist es völlig irrelevant, hat der Welt von heute gar nichts zu sagen, denn Jesus Christus und sein Evangelium wird dann nicht größer sein als mein eigenes ICH und Gott nichts anderes sein als eine Projektion des menschlichen Wunschdenkens. Und, um mit Martin Luther King Jr. zu sprechen, dann werden die Christen eher Thermometer sein, die die Temperatur der Gesellschaft widerspiegeln, statt Thermostate, die die Temperatur der Gesellschaft regeln.

Und das ist die Frage, die ich vorschlagen möchte, dass wir sie in diese Kar- und Ostertage mitnehmen. Lasse ich meinen Glauben noch in mein Leben hineinsprechen oder bringe ich meinen Glauben dazu, mir das zu sagen, was ich hören will? Lasse ich Jesus in mein inneres Jerusalem hineinziehen und dort die Geldkassen meiner eigenen Sicherheiten umstoßen und hinterfragen? Lasse ich zu, dass er meinen Egoismus und meine Selbstsucht und Ichbezogenheit aus dem Tempel, der ich selbst bin und der aber ihm gehört, hinauswirft? Lese ich das Evangelium mit einer postmodernen Ideologie, in der es keine Wahrheit gibt außer den eigenen Präferenzen und Vorlieben oder lasse ich das Evangelium unverblümt in mein Leben hineinreden?

Ein Letztes

Diese Karwoche wird einen bleibenden Impact in meinem Leben haben, nicht nur, wenn ich realisiere, wer auf diesem Esel sitzt, sondern auch, wie er denn ist, der dort am Esel sitzt und danach am Kreuz hängt. Okay! Er ist Gott! Aber wie ist dieser Gott? Irgendwo ist doch dieser Gifttropfen in unseren Herzen, der Gott als Gefahr statt als einen Vater sieht, der uns liebt. Wir tun uns so schwer, wirklich an die Liebe zu glauben. Vielleicht auch verständlicherweise, weil wir so oft von Menschen verletzt wurden, die – so dachten wir – uns lieben. Weil wir fürchten, im Letzten doch alleine zu sein, auf uns selbst angewiesen zu sein, uns selbst Sinnhaftigkeit und Bedeutung und Relevanz schenken zu müssen.

Die Karwoche ist Träger einer anderen Botschaft. Die Liebe, die selbstlose unendliche, sich schenkende Liebe, die gibt es wirklich. Und nicht nur als Archetyp, als Idee, als Ideal oder als Utopie. Nein. Sie hängt am Kreuz. Für dich. Weil du wertvoll bist. Weil die Liebe einen Namen hat, Jesus Christus heißt und Leidenschaft – wortwörtlich Leidenschaft, Leidensbereitschaft, Leidenshingabe für dich ist. Die Karwoche will einladen: Lass dich lieben! Öffne die Tore deines inneren Jerusalems! Höre auf, alles selbst kontrollieren zu wollen, in der Hand haben zu müssen! Lass dich erlösen von ihm … Aber was heißt das „sich erlösen“? Es heißt zuerst einmal sich selbst zuzugestehen, dass man nicht alles in der Hand hat, alles so läuft, wie ich mir das vorstelle … dass man nicht selbst Gott ist und auch nicht sein muss. Es ist, ihn in sein eigenes Leben hineinzulassen … hier und jetzt … vielleicht mal in einem guten Beichtgespräch … vielleicht in einer längeren Gebetszeit, bei einem offenen „Herr, was willst du, dass ich tue?“

„Herr Jesus, ich will dich bitten für jeden einzelnen, der diese Zeilen liest … der vielleicht an der Liebe zweifelt, der sich vielleicht schwertut, an dich zu glauben, vielleicht auch, weil er sich schwertut, wirklich an die Liebe zu glauben. Du stehst vor der Tür unseres Herzens, unseres Jerusalems, du willst hier aufwühlen, aber um zu heilen, du willst unsere Lebenslügen aufdecken, aber um uns zu befreien. Du willst uns herausführen aus dem Käfig der eigenen Ich-Bezogenheit in die Weiten eines Lebens des Vertrauens und der Hingabe. Bitte hilf uns, die Tür zu öffnen“ … Wenn du dich schwertust zu glauben, dann kannst du vielleicht einfach mal ein Gebet sprechen wie: „Jesus, ich weiß nicht, ob es dich gibt oder nicht, aber wenn es dich gibt, wenn du für mich gestorben und auferstanden bist, bitte ich dich: Komm und lass mich sehend werden, lass mich erkennen, wer du bist, ich will dann glauben, aber hilf meinen Unglauben.“ Amen.

Gesegnete Ostern!

P. George

Titelbild: Shutterstock, with permission