„Stellt euch vor, ihr verschenkt ein Stück Brot. Ohne Käse, ohne gute Wurst, einfach nur ein Stück Brot. Und die Person, der ihr es schenkt, dankt euch mit Tränen in den Augen“, schildert Pfarrer Andrzej bei seinem Besuch im Zentrum Johannes Paul II.

von Anna Schinnerl

„Was wir tun, ist nur ein Tropfen. Aber all diese Tropfen des Guten werden zu einem Ozean. Das ist unsere Aufgabe als Christen in dieser Situation.“ Dreimal an diesem Wochenende spricht der Priester aus der Pfarre Susiec in Polen, nahe an der Grenze zur Ukraine, zur Gemeinde des Zentrums Johannes Paul II. über die Lage dort. Zwischen seiner Pfarre St. Nepomuk und dem Zentrum Johannes Paul II. gibt es seit kurzem eine Partnerschaft. Erste „iCare Ukraine“-Hilfslieferungen aus Wien mit Lebensmitteln, Sachspenden und mit Notstromaggregaten sind dort eingetroffen.

Pater Andrzej wirkt müde und mitgenommen. Man spürt, dass viel Verantwortung auf seinen Schultern lastet. Tags zuvor ist die ukrainische Stadt Lemberg bombardiert worden, in der sein Priesterfreund Pater Oleg, Leiter der Stiftung Johannes Paul II., lebt. Dorthin werden auch unsere Hilfsgüter gebracht und dann weiter ins Landesinnere der Ukraine transportiert. Im Anzug und Priesterkragen spricht er auf Polnisch zu uns, Jan übersetzt. Auch die Kinder hören aufmerksam zu.

Die Not und Verzweiflung vor Augen. Er erzählt von der Aufnahme der Flüchtlinge: „Die Menschen in Polen haben keine Lager eröffnet, sie haben ihr Zuhause geöffnet und die Menschen aufgenommen.“ Das ist besonders bemerkenswert, da es aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges noch große Verfeindungen zwischen den Ländern gibt. Pater Adrzej ist in Wien, um zu danken, für das Gebet und die Hilfe, aber auch um weitere Hilfe zu bitten: „Dies ist erst der Anfang dieses Krieges. Es wird noch länger so weitergehen.“

Viele seiner Worte werden mich wohl die nächste Zeit begleiten. Wie nahe dieses große Leid uns doch ist! Dass es wohl nicht so schnell aufhören wird. Wie zerstörerisch diese Macht ist! An der Grenze warten Mütter mit ihren Kindern, sie fliehen, weil es in ihrer Heimat nicht mehr sicher ist. All diese Bilder sind nicht einfach zu verdauen, helfen aber, die Not und Verzweiflung vor Augen zu haben. Und sie stärken unsere Hoffnung: Wir haben einen Weg zu helfen.

Wir beten. Was ich in den vergangenen vier Wochen beobachten habe können: Die Herzen der Menschen in unserer Gemeinde leiden mit. Wir wollen helfen. Wir wollen geben. Wir beten, in Gebetsabenden in der Gemeinde, mit der Familie und allein. Manchmal fehlen uns die Worte, manchmal sind wir sogar mit Trauer oder gar Hass konfrontiert. Wir machen uns Sorgen und trotzdem beten wir weiter. Auch mein persönliches Gebet für die Situation ist so viel tiefer, so viel ehrlicher geworden, weil ich jetzt einen direkten Bezug aufgebaut habe. Mir ist das Gefühl gegeben worden, dass ich wirklich helfen kann.

Hilfe wird sichtbar. Es ist konkret: eine Decke, Sonnenblumenöl, Babynahrung. Geld für Stromaggregate, welche ich im Zentrum zwischengelagert sehe, und die dann mit einem Bus, gefahren von Mitgliedern unserer Gemeinde, zu Pater Adrzej im 750 Kilometer entfernten Susiec gebracht werden. Die Situation ist nicht einfach, sie ist für uns alle im  Zentrum Johannes Paul II. schwierig. Auch wenn wir uns von dort weit entfernt fühlen, wenn wir hier den Krieg nicht spüren und keine Bomben hören. Sie ist schwierig für eine Gesellschaft, die seit zwei Jahren psychisch leidet. Vielleicht sind wir auch ein bisschen abgestumpft, drehen uns um uns selbst. Durch dieses Projekt „iCare Ukraine“ bekommen wir die Möglichkeit zu helfen, ganz konkret und nah.

Das neue Zentrum bindet die Kräfte. Dabei hat uns vor diesem Hilfsprojekt etwas ganz anderes auf Trab gehalten. Seit einem Jahr wissen wir, dass unser neues Zentrum Wirklichkeit werden wird. Ein schönes, altes, seit 10 Jahren leerstehendes Hotel in der Praterstraße 28 hat offenbar auf uns gewartet. Seit Monaten plant das Team des Zentrums, gestützt von Architekten, unser neues Zuhause. Eigentlich sollten wir dafür gerade Millionen von Euros fundraisen, zusätzlich explodieren gerade die Baukosten. Unser Gottvertrauen wird so im Alltag bereits ständig auf die Probe gestellt. Und jetzt bricht auch noch ein Krieg aus.

 

Die Situation geht uns nahe. Einmal die Woche besprechen wir Allfälliges und Besonderes, um zu sehen, wie es uns allen in unserer Arbeit geht. An einem solchen Mittwoch ist die Stimmung gedrückt, es geht uns nicht gut mit der Situation: Ein Krieg ist ausgebrochen. Wir sind ziemlich ratlos, in der ersten Woche steht durchgehend die Frage im Raum: Können wir helfen? Geht das überhaupt, in der finanziellen Situation, in der wir uns selbst gerade befinden?

Zwei Tage später, am Freitag, treffen wir uns erneut, um das Thema zu besprechen. Ich merke, dass es Pater George und Klemens nahegeht. Die Bomben fallen mittlerweile in vielen Regionen der Ukraine. „Wir müssen helfen!“, sind Mateo und Julia schon Feuer und Flamme. Ich zögere und höre zu. Krieg und alles Zerstörerische halte ich lieber in sicherer Entfernung zu meinen Emotionen. Solche Meetings gibt es in unserem Team häufig: Es kommt eine Situation, es braucht eine Lösung. Ich persönlich würde nie so schnell reagieren. Immer wieder erstaunt mich die Fähigkeit meiner Kollegen, schnell zu agieren, sich Neues auszudenken, sofort in ein Brainstorming zu gehen. Ich für meinen Teil werde erst später aktiv, wenn die Ideen ausgereift sind und dann jenen Leuten die Luft ausgeht, die die Sachen begonnen haben. Deshalb sind wir ein gutes Team, so tragen wir unser Zentrum weiter.

Man sieht Pater George auch irgendwie an, wie er mit der Entscheidung hadert. Eigentlich, so hat er mir vor Kurzem erklärt, sei es jetzt seine Aufgabe, mit aller Zeit und Kraft für unser neues Zentrum zu fundraisen, für unser neues Zuhause in der Praterstraße. Und plötzlich sieht die Welt – schon wieder – ganz anders aus. Und es gilt zu reagieren. Als Zentrum, als Gemeinschaft. Und wir, die Mitarbeiter, machen den Anfang.

Wie würde Jesus handeln? Manchmal fühle ich mich so, als wären wir die „first responder“ der Krisen im Zentrum. Seit zwei Jahren schon geht es so dahin. Es kommt eine unvorhergesehene Situation, wir treffen uns, entscheiden, handeln. Schnell also wird klar: Wir wollen – nein, wir müssen auch helfen! Es gibt so viel Not. Und an ganz erster Stelle steht die Frage: Wie würde Jesus handeln?

Und schon ist jeder Zweifel verschwunden. In kürzester Zeit klären wir, wer wen kontaktiert. Drei Mitglieder unserer Gemeinde sind bereits andernorts in der Hilfe für die Ukraine involviert, bei ihnen fragen wir genauer nach, wie wir helfen können. Zwei Tage später steht der erste Plan fest. Wir werden mit der Pfarre Susiec in Polen kooperieren, ganz nah an der Grenze zur Ukraine. In Bereichen wollenn wir helfen: mit Gebet, Sachspenden und finanzieller Hilfe. Und kaum vier Tage später startet unser Projekt: „iCare Ukraine“.

Aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Die Aufregung, die sich dann aufbaut, ist schwer in Worte zu fassen. Alle Beteiligten des Kernteams dieser Aktion arbeiten auf Hochtouren. So aufgeregt habe ich so manches Gemeindemitglied schon lange nicht mehr erlebt. Wir sprechen über das Tagesevangelium, in dem Jesus zu den Menschen sagt: „Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.“ (Lk 6,38) Diese Stelle trifft mich nun ganz besonders. In einer Situation, in der wir als Gemeinde wirklich nicht sicher sind, ob wir genug haben, um geben zu können, geben wir trotzdem. Und das bringt auch mich zum Nachdenken: Was kann ich geben? Inwiefern entziehe ich mich gern dem Geben, einfach nur weil ich denke, dass ich eh nicht genug habe, um zu helfen?

Und auf einmal sind Pater George und Lukas, der ihn zum Übersetzen begleitet, im Grenzgebiet Polen-Ukraine angekommen. Dort treffen sie Pfarrer Andrzej von unserer neuen Partnerpfarre und auch Pater Oleg, Leiter der Stiftung Johannes Paul II. in Lemberg und Militärseelsorger. Wir in Wien erhalten laufend Fotos und Videos vom Treffen, sehen die Helfer und Pater George beim Umladen, die Grenze, die Priester im Gespräch. Mein Gedanke ist bei allem nur: Ich hoffe, dass alle wieder unbeschadet zurückkommen.

Nun bete ich, hoffe ich und merke, dass mein Herz weich wird. Für die Menschen in der Ukraine, in Polen, in Russland. Beten wir für ein Ende dieses Krieges, denn für Gott ist nichts unmöglich. Und bis dorthin möchte ich geben, was ich kann. Denn Jesus spricht zu uns: Was ihr für andere tut, das habt ihr mir getan. (vgl. Mt 25,40)