Ein Messerstich ins Herz. Und doch. Sie hat überlebt. Will überleben. Masochismus? Ziemlich abgefahren, doch eigentlich hat es niemand so wie sie kapiert, worauf es ankommt. Also, nochmal: „Die Gewalt deines Schmerzes lass mich fühlen.“ Es ist 7:10 Uhr. Heute Morgen. Ich stehe in meinem Zimmer und versuche irgendwie nachzuempfinden, wie das wohl gewesen ist und was es zu bedeuten habe. Vor mir ein barockes Kruzifix aus Holz. Das Leinentuch Jesu flattert im Wind, das radikale Sich-Entblößen des Gottmenschen, das äußerste Sich-verwundbar-Machen ist dort festgenagelt. Angespannte Venen, aufgeschürfte Haut rund um den gigantischen Fußnagel, die linke Hüfte schwingt über die Kanten des Kreuzes hinweg, als ob die Flucht des noch lebendigen Jesus über die festgesetzten Grenzen der Nägel nicht hinausreichte. „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann steig herab“ (Mt 27,40, vgl. auch Lk 4,9). Zu seinen Füßen steht aber auch sie. Oder wie es Johannes sagt (wenn man den ursprünglichen griechischen Text betrachtet): Sie hält die Stellung.

Ich erinnere mich an meine Gespräche von gestern. Christoph Kardinal Schönborn wird wegen seiner Kommentare während der Mariä-Namensfeier am Sonntag ziemlich angegangen, und das auf internationaler Ebene. Aber da hat irgendjemand etwas nicht verstanden. Europa ist in Gefahr, sagte der Kardinal. Es sollte uns nicht wundern, dass es uns „hinten und vorne fehlt. Dass wir in Not geraten“, da wir unser Erbe und somit unsere Identität verschleudert haben. Aber die Ursache dieses Problems seien wir selbst, betonte er danach in einer Erklärung dem „Sonntag“ gegenüber, nicht der Islam, nicht einmal die Islamisten und schon gar nicht der Flüchtlinge. Und die Lösung? „Die Rückbesinnung auf Christus“, sagte Kardinal Schönborn. Aber was heißt das?

Ich denke, dass es zuallerst doch heißen muss – das scheint im ersten Moment belanglos zu sein, ist aber genau das Gegenteil: Lernen, mit Maria am Fuß des Kreuzes auf Christus zu schauen. „Me sentire vim doloris“ heißt es in der 9. Strophe des von mir zu Beginn dieses Newsletters zitierten Gedichtes „Stabat Mater“: „Die Gewalt deines Schmerzes lass mich fühlen.“ Aber „vim“ kann man auch mit Macht, Kraft oder Wirkung übersetzen. Aber welche „Wirkung“ soll bitte der Schmerz haben? Welche Macht? Und warum halten wir Legionäre Christi und das Regnum Christi gerade diesen Tag des
15. Septembers so hoch und heilig? Warum soll unsere Kongregation gerade der „Schmerzhaften Muttergottes“ gewidmet sein? Warum begehen wir diesen Tag als Hochfest?

Irgendwie verrückt, dachte ich. Aber langsam dämmerte es mir. Wenn ich mich selbst finden will, wenn ich mich begreifen möchte, wenn Europa sich begreifen will, dann muss ich, dann müssen wir uns mit Maria Christus nähern. Um es mit dem hl. Papst Johannes Paul II. zu sagen, „Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will – nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muss sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nähern. Er muss sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muss sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und Erlösung aneignen und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser tiefgreifende Prozess vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlasst, sondern gerät in auch in tiefes Staunen über sich selbst. Welchen Wert muss der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben … dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium.“

Das beeindruckende dieses Zitates des Papstes ist es, dass es nicht nur um ein äußeres Hinschauen auf Christus geht, sondern um ein Ergriffensein von dem, was man da sieht, ein An-sich-selbst-ergehen-Lassen, ein Einswerden mit diesem Geheimnis, eine Umgestaltung in Christus, die dazu führt, dass die Macht seines Leidens auch in uns wirksam wird für unsere Mitmenschen, dass das Ergriffensein und die Erschütterung zu einer Verwandlung führen, sodass „nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“(Gal 2,20), und dass ich gerade so meine tiefste Identität nicht nur intellektuell begreife, sondern zutiefst erfahren darf, was es heißt, Sohn im Sohn (Vgl. Gal 3,26) zu sein und die Macht, die mir sogar in meinem Leiden zuteil wird, in dem ich an meinem Leib ergänze, was an den Leiden Christi noch fehlt (vgl. Kol. 1, 24). Die Anbetung führt zum Apostolat, drängt zur Hingabe an den Mitmenschen.

Heute morgen las ich eine Predigt von Bernhard vom Clairvaux im Brevier (das offizielle tägliche Gebet der Kirche, das hauptsächlich aus den Psalmen besteht). Er erinnerte an einen sehr beachtenswerten Gedanken des hl. Paulus, der die Gefühlslosigkeit zu den größten Sünden der Heiden rechnete (vgl. Röm 1, 31 ). Dieser Satz hat mich beeindruckt. Denn natürlich kenne auch ich Heiden, also Nichtgläubige, die sehr wohl zu Mitleid fähig sind und Christgläubige, die den Leiden und Bedürfnissen anderer gleichgültig gegenüberstehen können. Aber der Punkt von Paulus ist halt der: Wenn der Heide nicht mehr seinem Nächsten gegenüber gleichgültig ist, kann man beginnen, an seinem Atheismus zu zweifeln, und wenn der Christ gefühlslos seinem Nächsten gegenüber steht, kann man die Echtheit seiner Erschütterung vor dem Kreuz hinterfragen, denn er bewegt sich Richtung Atheismus.

 

 

Das war die Einleitung zum Regnum Christi Newsletter, der heute erschienen ist. Den Newsletter kann man hier abonnieren.

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