Frühmorgens. Gegenüber liest ein älterer Mann mit Glatze friedlich seine Tageszeitung. Neben ihm: ein Student, der anscheinend vor seiner Prüfung steht. Außer seinen ausgebreiteten Notizen scheint er aber auch für gar nichts anderes Aufmerksamkeit übrig zu haben. Eine Dame schaut mit leerem Blick ins Nichts, während sie sich langsam an ihre Frühstücksbanane heranmacht. Ein Greis schläft. Auf einmal: Ein Bremsruck zieht sich durch die Abteile und Wagen. Offensichtlich befindet sich der U-Bahn Fahrer noch in der Lernphase. Guten Morgen, New York City! Die Türen der Metro platzen auf. 168th Street. Herein spazieren zwei kleine Jungen, die nichts Gutes versprechen. Hinter ihnen her ein Mann im mittleren Alter, der offensichtlich ihr Vater ist. Auf einmal ist die Hölle los. Einer der Jungen reißt dem Mann mit der Glatze die Zeitung aus der Hand, knetet daraus einen kleinen Fußball und spielt ihn zu seinem Bruder hinüber. Der ist allerdings gerade damit beschäftigt, der Frau die Reste ihrer Banane auf den Boden zu schmieren und die Schale in Richtung Gesicht des Studenten abzufeuern. Der schlafende Greis, der nicht mehr schläft, hat anscheinend dem Zeitungsräuber eine Lektion erteilen wollen, rutscht aber auf den Bananenresten aus und fällt in die Arme der Bananenbesitzerin. Dem Lausbubenvater hingegen scheint das alles egal zu sein. Er sitzt ganz bequem und ungestört da, in seine Gedanken versunken. Ich stehe auf, versuche meine aufkommende Wut in Zaum zu halten. Ich bin sogar ziemlich stolz darauf, dass ich nicht explodiere. Gefasst sammle ich meine Zivilcourage und konfrontiere ihn mit den Tatsachen: „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie fragen, ob es möglich wäre, Ihre Kinder etwas mehr zu kontrollieren, denn wie Sie beobachten können, benehmen sie sich äußerst auffällig“. Worauf der Vater wie aus einem Traum erwacht und mit schwacher Stimme versucht, seine Tränen zu verdrängen. „Oh! Verzeihung, ich komme gerade aus dem Krankenhaus, wo vor einer Stunde die Mutter dieser beiden gestorben ist. Ich nehme an, dass sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, und ehrlich gesagt, ich weiß es auch nicht.“ Ich stand sprachlos da. Oh Gott! All meine angestaute Wut war verflogen. In einer Sekunde. Mitgefühl, der Wunsch, etwas tun zu können, nahm deren Platz ein: „Der Arme!“, denke ich mir. „Kann ich was für Sie tun? Wollen Sie darüber sprechen?“

Paradigmenwechsel: der Körper und seine bräutliche Bedeutung

Stephen Covey erzählt in seinem Bestseller „Die 7 Wege zur Effektivität“ dieses Erlebnis, um die Macht eines Paradigmas zu veranschaulichen. Äußerlich hatte sich gar nichts geändert. Die Kinder schrien immer noch, wirkten immer noch sehr störend. Und doch: Alles war anders, weil eine andere Perspektive dieselbe Situation auf einmal durch einen Paradigmenwechsel verwandelt hatte. Der Sachverhalt änderte sich gar nicht, aber die innere Einstellung des Autors änderte sich in einem Augenblick.

Der Sinn und Zweck dieses Blogs zum Thema „Theologie des Leibes“ besteht darin, eine Perspektive in Bezug auf den Körper und auf die Sexualität anzubieten, die sich nicht als besser oder schlechter oder wahrer oder verkehrter als die des Mediziners, des Biologen, des Psychologen oder des Sexualwissenschaftlers ausgeben will; sie ist eine andere. Oder besser gesagt, sie ist eine Ergänzung, sie will den Blick weiten, nicht einschränken. Diese Perspektive besagt vor allem, dass zum Körper und zur Sexualität mehr gehört, als was das Auge sieht, dass aber dieses „Mehr“ zugleich nur durch den Körper vergegenwärtigt werden kann. Diese Perspektive will besagen, dass man im sichtbaren Körper von Mann und Frau, ein „Design, eine Ausrichtung“ entdecken kann, die vor allem durch einen „Aufschrei des Herzens“, eine Sehnsucht und ein Verlangen verdeutlicht wird und die „Schönheit der Liebe, wie sie erschaffen wurde“ offenbart. Und diese Offenbarung des Designs des Körpers und der Sexualität wird im Begriff der „bräutlichen Bedeutung des Körpers“ zusammengefasst. Dieser Begriff besagt, dass der Mensch durch seinen Körper und nur durch seinen Körper Liebe ausdrücken kann und dass seine Ausrichtung, sein Design, Sinn, Zweck und Daseinsgrund darin besteht, dieser Liebe Ausdruck zu verschaffen.

Gemeinschaft zwischen Mann & Frau

Das Konzept „bräutliche Bedeutung des Körpers“ erscheint in den Katechesen von Johannes Paul II. über die Theologie des Leibes 117-mal und ist deren zentralster und wichtigster Begriff. Begründet ist der Begriff in der Auffassung, dass der menschliche Leib in seiner zweifachen Form des Daseins – als Mann und als Frau – sowie der Sexualakt selbst gut sind. Inhaltlich will der Begriff verdeutlichen, dass der menschliche Körper zum Ausdruck der Liebe werden kann. Oder anders nuanciert: Das Attribut „bräutlich“ bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, mit seinem Körper Liebe auszudrücken, indem er in seinem Körper selbst zum Geschenk wird. Auf diese Weise erfüllt der Mensch den Sinn seines Daseins. Noch mal anders: Die „bräutliche Bedeutung des Körpers“ will zum Ausdruck bringen, dass der Körper von innen her auf eine Gemeinschaft von Personen orientiert ist, für diese Gemeinschaft geschaffen und letztendlich seine Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott selbst und, durch ihn, in der Gemeinschaft mit allen Menschen (was eine Glaubensperspektive die „Gemeinschaft der Heiligen“ nennt) findet.

Der Körper deutet von sich aus auf Gemeinschaft hin. Das können wir am „Mannsein“ und „Frausein“ des Menschen entdecken. Der Körper in seiner männlichen und in seiner weiblichen Form sagt etwas aus: Ich bin nicht für mich selbst geschaffen, ich kann in meinem Körper einen tiefen Sinn entdecken, einen Ruf zur Liebe. Gerade weil Liebe nur frei geschenkt und nicht erzwungen werden kann, bleibt der „Ruf“ des Körpers zur Gemeinschaft in der Liebe immer nur ein „Ruf“. Diesem Ruf liegt eben „nicht nur der ‚sexuelle Instinkt‘ als Kategorie … eines naturalistischen Sachzwangs, sondern ein Bewusstsein für die Freiheit der Gabe“ zugrunde. Nur allein den Sachzwang des Instinkts vor Augen zu haben, verringert und verengt die Wahrnehmung dessen, was Mannsein-Frausein in der Dimension des Zwischenmenschlichen eigentlich ist. Das Bewusstsein des „Nicht-Müssens“ im Bereich des sexuellen Instinkts hingegen, öffnet den Weg für das Bewusstsein sowie für das Leben der Freiheit in Bezug auf die Gabe, das Geschenk seiner selbst. Das „Ja“ des Geschenks bedeutet nur wirklich etwas für den, der weiß, dass er auch „Nein“ sagen könnte, dass er nicht „Ja“ sagen muss. Deswegen ist der sexuelle Instinkt der „Rohstoff“ für die Freiheit der Gabe, doch die Gabe selbst, geht weit über diesen Instinkt hinaus. Die Stärke der Liebe ist proportional zur inneren Freiheit, die man dem Instinkt gegenüber bewahrt. Versklavung gegenüber dem Instinkt verdunkelt die bräutliche Bedeutung, weil sie die Freiheit zerstört. Das „Ja“ bedeutet dann nämlich nichts mehr. Das heißt, das gegenseitige „Für“ von Mann und Frau kann man eigentlich nur im größeren Kontext verstehen, und zwar: Bei der Mann-und-Frau-Beziehung geht es nicht nur um den Sachzwang des Instinkts, sondern um zwei freie Menschen, die beide in der Liebe wachsen können, in dem Maß, in dem sie in der Beziehung zueinander in ihrer „Einsamkeit“ (Kapitel über die Einsamkeit) verharren, im Vollbesitz ihrer selbst bleiben. Ein Geschenk, das man schenken muss, ist kein Geschenk.

Nicht-Müssen ist echte Liebe & Freiheit

Eine Geschichte von einem Freund hat mir das deutlicher gemacht. Er saß eines Tages in einem Restaurant mit seiner Frau. Sie schaute ihn an und sagte, „Du, Chris, in letzter Zeit ist irgendwas anders zwischen uns.“ Er überlegt … anders … was ist denn anders? Nach einigem Nachdenken antwortete er: „Ich hab´s, ich habe verstanden, dass ich dich nicht brauche, um glücklich zu sein.“ Sie lachte und erwiderte: „Genau! Und ich habe auch verstanden, dass ich dich nicht brauche, um glücklich zu sein.“ – Hört sich ein wenig makaber an, und hätte ein Außenstehender diese Unterhaltung mitbekommen, hätte er bei sich sicherlich gedacht: „Oh Mann, die haben ja die volle Krise!“ Die beiden hingegen behaupteten, sie wären einander noch nie so nahe, noch nie so eng verbunden, noch sie so tief verliebt gewesen wie jetzt. Paradox. Aber für mich verdeutlicht diese Geschichte, was hier hervorgehoben werden soll: Der Körper hat eine bräutliche Bedeutung, weil es bei den durch den Körper vergegenwärtigten Menschen, die durch den Leib ihr ganzes Selbst zum Ausdruck bringen, um mehr als Instinkt geht. Durch den Körper kann die Freiheit des Geschenks und somit die Liebe ausgedrückt werden. Er steht ihr frei gegenüber. Sie steht ihm frei gegenüber. Sie müssen nicht, sie wollen. Das ist es ja, was das Herz erobert. Je mehr der eine den anderen aber braucht, den anderen haben MUSS, nach dem anderen als emotionale oder sonst eine Krücke verlangt, desto größer der Freiheitsverlust auf beiden Seiten.

Gott kann übrigens in diesem Sinne Garant für die Freiheit werden. Insofern er nämlich an erster Stelle steht, muss der Partner nicht vergöttert werden, muss er nicht die Quelle für die Erfüllung aller Sehnsüchte sein. Das Vergöttern des Partners führt zum Freiheitsverlust, weil der andere von den eigenen Erwartungen und Forderungen erdrückt und überfordert wird – er und sie sind halt nicht Gott und – Gott sei Dank, und wo Liebe waltet, müssen sie es auch nicht sein.

Zölibat & die bräutliche Bedeutung des Körpers

Der zölibatär Lebende kann dazu dienen, die Möglichkeit der „Freiheit der Gabe“ von nicht zölibatär Lebenden zu unterstreichen. Wenn es nämlich nicht völlig hirnrissig ist, was er tut, dann unterstreicht er mit seinem „Ja“ zum Verzicht, dass es auch beim Miteinander-Schlafen eben um mehr als das Physische gehen muss. Wie das? Es verhält sich so ähnlich wie bei einem Mann, der spürt, dass es, aus welchen Grund auch immer, seiner Frau in einem gewissen Moment sehr schwer fallen würde, zusammenzukommen, und der sich dann aus Liebe dafür entscheidet, auf das sexuelle Einswerden zu verzichten. Die Freiheit seiner Gabe offenbart sich gerade in seinem Verzicht. Ferner offenbart sich diese Freiheit der Gabe in seinem Körper, der Verzicht ist eben körperlich. Das Paradoxe besteht darin, dass gerade der Verzicht auf die Ausübung sexuellen Verkehrs die Möglichkeit zu einem sexuellen Verkehr aufweist, der wirklich frei und von der Freiheit der Gabe gekennzeichnet und durchdrungen ist, oder noch besser: der gerade zum Ausdruck dafür wird, dass man sich frei gibt. Gerade der Verzicht des zölibatär Lebenden unterstreicht den Wert der sexuellen Hingabe. Denn er gibt das auf, nicht weil es so einfach ist, sondern weil es so schwer ist. Das ist ja die Idee. Er sagt, er liebt Gott so sehr, dass er ihm das Größte geben will, was er geben könnte, und unterstreicht gerade dadurch, dass die Ausübung der Sexualität nicht ein MUSS ist, sondern immer ein freies Geschenk sein kann. Dasselbe „Für“, das im obigen Beispiel den Mann dazu gebracht hat, auf das Ausüben der Sexualität in einem gewissen Augenblick zu verzichten, kann ihn dazu bringen, in einem anderen Augenblick, seine Sexualität voll auszuüben und sich selbst dadurch seiner Frau zu schenken. Das heißt, der zölibatär lebende Mensch, der auf sexuelle Vereinigung verzichtet, kann paradoxerweise Mut machen und zeigen, dass dieser Verzicht möglich ist, dass Freiheit in der Ausübung der Sexualität möglich sein kann, dass Sex nicht ein MUSS ist, dass die ganze Rede von „Freiheit der Gabe“ einen Sinn hat, kein schon im Vorhinein zur Heuchelei verurteiltes Unternehmen ist.

Wenn der sexuelle Verkehr sein müsste, dann könnte man nicht mehr von Freiheit und deswegen auch nicht von Liebe sprechen. Die Blume des Burschen in der Hand seiner Freundin bedeutet etwas, weil er die Blume nicht geben muss. Die tiefe Bedeutung der Blume erschließt sich aber nicht alleine durch das Negative „nicht müssen“ sondern deutet vielmehr hin auf den positiven Gehalt der Gabe, das Geschenk „für“ den anderen, die Folge eines freien „Ja“. Das ist es, was mit „Freiheit der Gabe“ gemeint ist.

Der Körper: Es steckt so viel mehr dahinter!

Das sichtbar Spezifische des Mannes und das sichtbar Spezifische der Frau deutet hin auf eine unsichtbare Wirklichkeit, die „bräutliche Bedeutung“, die sich in einer dreifachen Erfahrung zum Ausdruck bringt: in der Einsamkeit, in der Einheit und in der Nacktheit. Diese drei Aspekte formen die Grundlage für ein Verständnis von dem, was dem Menschen wesentlich ist.

Die drei Begriffe – Einsamkeit, Einheit, und Nacktheit, betrachtet in einer vierfachen Ordnung – der des Paradieses, jener der gefallenen Welt, jener der erlösten Welt und der des Himmels, bilden den Inhalt der ganzen Theologie des Leibes. Ein Überblick, wie anhand der drei erwähnten Grundaspekte des Menschlichen die Geschichte des Menschen von Anfang (ursprüngliche Ordnung) bis Ende (Himmelsordnung) aus der Perspektive eines Glaubenden zu verstehen ist, kann einen Gesamtbild der ganzen Theologie des Leibes und so des Menschen vermitteln.

 

Dieser Blogbeitrag gibt einige Gedanken aus meinem Buch „God, Sex & Soul“ etwas überarbeitet wieder.

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