Ist es gut, dass der Mensch alleine ist?
Der Mensch macht aber noch in einem zweiten Sinn Erfahrung von seiner Einsamkeit. Er hat eine Sehnsucht nach einem anderen „Ich“, nach einem „Du“. Genesis erzählt das ziemlich dramatisch. Es gab Moskitos und Eisbären, Allesfresser und sogar Pferde und nette Hunde. Aber, trotz all dieser tollen Dinge, heißt es, „eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht.“ (Gen 2,20) Auf der einen Seite erweckt die Einsamkeit des Menschen das Bewusstsein, für die eigene Würde, für die eigene Subjektivität, für die Existenz und den Wert des eigenen Ichs. Auf der anderen Seite, fehlt ihm etwas. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt“ (Gen 2,18). Eva wird ihm als Hilfe geschenkt; nicht dass sie ihm helfen sollte, Teller zu waschen, sondern sie sollte ihm helfen, sich als Mensch zu verwirklichen. Der Mensch findet sich selbst, findet seine Erfüllung in der Beziehung zum anderen „Ich“, das er als Geschenk annimmt und dem er sich selbst als Geschenk gibt und das er nicht als Objekt benutzt. Eva wird ihm zugeführt (Gen 2,22), das steht im Kontrast zur Erzählung mit dem Apfel in Gen 3,6, wo es nicht mehr um ein schenkendes Zuführen, sondern um ein Ergreifen geht. Er findet sich selbst, er bewahrt seine Einzigartigkeit, seine Einsamkeit nicht, indem er sich als einer mehr unter vielen anderen versteht, indem er sich selbst verschließt und versucht, alles an sich zu reißen, für sich zu nutzen, sondern in dem Maß, in dem er das Geschenk des anderen annimmt und sich selbst schenkt. In dem Maß, in dem er liebt, bewahrt der Mensch seine Einsamkeit. Das scheint ein Widerspruch zu sein, ist es aber nicht, wie uns die Erfahrung zeigt: Die Liebe, wie schon vorher erwähnt, löst nicht das „Ich“ auf, sondern durch das eigene Sich-Schenken lässt sie einen überhaupt erst sich selbst finden. Man findet sich selbst in der Beziehung, wenn man in dieser Beziehung selbst sein darf. Dieses in der gegenseitigen Beziehung sich verwirklichende „Man-selbst-sein-Dürfen“ wird in Genesis unterstrichen. Im dortigen Bericht wird der erste Mensch „Mensch“ (adam) genannt. Hier wird zwischen Mann und Frau noch nicht unterschieden. Der Mensch (adam) erwacht nach dem Schlaf als Mann (ish) und Frau (issha). Die Wahl des Wortes „Mensch“ (adam) – noch ohne sexuelle Differenzierung – scheint darauf hinzudeuten, dass das, was von ihm als „Adam“ behauptet wird, auf beide Formen seines Menschseins – Mann und Frau – zu übertragen ist. Das heißt, der Mensch als solches, egal ob Mann oder Frau, empfindet in sich diese doppelte Einsamkeit: Erstens, die der eigenen Subjektivität, des eigenen „Ich-seins“, Erkenntnisfähigkeit und Fähigkeit der Selbstbestimmung, das Nicht-ein-„Ding“, sondern ein-„Jemand“-Sein. Beide, Mann und Frau, sind Menschen mit derselben Würde, die der eigenen Innenwelt entstammt.
Einsamkeit und Gemeinschaft, ein Widerspruch?
Zweitens: Die Feststellung, dass es für den Menschen nicht gut ist, allein zu sein, trifft auch auf beide zu. Beide spüren und nehmen durch ihren eigenen Körper das Bedürfnis nach Gemeinschaft wahr. Beide verwirklichen ihre eigene Einsamkeit erst wirklich in der Gemeinschaft der Personen, in der Liebe. Die Einsamkeit ermöglicht erst die Gemeinschaft und die Gemeinschaft führt zur Erfahrung der eigenen Einsamkeit – das Bewusstsein von dem, was man ist, das eigene Innenleben, die eigene Würde – auf eine tiefere Ebene. Und sie tut das nicht theoretisch, sondern in der Praxis, durch das, was man am eigenen Körper und durch den Körper des anderen erfährt. Noch mal anders gesagt: Stellen wir uns ein Paar vor, Hans und Hannelore. Beide sind sich ihres eigenen Ichs bewusst. Durch diese Innerlichkeit können sie sich selbst bestimmen. Gerade deswegen ist jeder vor Fremdbestimmung geschützt. Das heißt, Hans kann Hannelore nicht dazu zwingen, ihn zu lieben. Er kann es versuchen, aber es wird wahrscheinlich das Gegenteil von dem bewirken, was er sich erhofft hatte. Respekt, Wertschätzung für die Freiheit des anderen – und dadurch für den anderen selbst – ist die Grundlage für jede Beziehung. Wo das nicht gegeben ist, wo einer dem anderen die eigene Innenwelt aufzudrängen versucht (oder um die Worte der Bibel zu nutzen: in den „verschlossenen Garten“ des anderen eindringt), durch Druck, Vorwürfe oder Erwartungen – welche Methode ist eigentlich egal, das Resultat ist dasselbe –, dort entstehen Abhängigkeit oder Co-Abhängigkeit und Freiheitsverlust. Hier braucht (und deswegen „ge-braucht“, d.h. nutzt) einer den anderen als Mittel (zum Zweck), um das eigene emotionale Loch zu füllen, um unerfüllten Erwartungen nachzukommen, usw.
Die Einsamkeit des anderen respektieren und annehmen heißt in Zusammenfassung all dessen, was in den letzten Blogbeiträgen gesagt wurde: Ich nehme dich an, wie du bist, ich respektiere dich zutiefst in deiner Einzigartigkeit, du musst dich nicht ändern, damit ich dich annehme, du darfst einfach sein, du musst auch nichts leisten, um meine Annahme zu erkaufen, die ist schon gegeben. Gerade diese Einstellung führt zur Liebe, oder besser, ist schon der erste Schritt auf Liebe zu und wird jeden weiteren Liebesschritt begleiten. Herzen werden kaum anders erobert. Gerade das sind die Worte, die sich christliche Ehepaare vor dem Altar geloben: „Ich nehme dich an als meine Frau. Ich nehme dich an als meinen Mann.“ Annahme, die echt und tatsächlich die ganze Wirklichkeit des anderen umfasst, kann umwerfend sein. Der Respekt und die Wertschätzung für die Innerlichkeit und Einzigartigkeit des anderen führt den anderen dazu, die eigene Einzigkeit und Innerlichkeit noch mehr zu respektieren und zu schätzen, aber ermöglicht es ihm auch, diesen Respekt und diese Annahme zurückzuschenken. Es entsteht wirklich eine Gemeinschaft der Personen, ein größeres „Wir“, in dem aber der Einzelne nicht verloren geht, sondern sich erst wirklich findet. Beziehungsprobleme tauchen ja gerade dort auf, wo dieser Grundrespekt für die innere Unantastbarkeit des anderen, für seine wirkliche Freiheit und Einzigartigkeit nicht gewahrt wird, wo Forderungen gestellt werden, wo Grenzüberschreitungen zum Tagesgeschehen gehören, wo der andere dies oder jenes ändern muss oder anders sehen oder einsehen muss, wo der andere bestimmte Dinge erfüllt haben muss, bevor er oder sie wirklich angenommen wird. Gemeinschaft, Freundschaft, Beziehung: das alles beruht auf Freiheit, jedes „muss“ ist in diesem Kontext beziehungsgefährdend. Aber wie atemberaubend schön kann es sein, wenn genau das Gegenteil passiert, wenn echte Annahme der Einsamkeit des anderen stattfindet, wenn er oder sie einfach die eigene Identität nicht nur leben dürfen, sondern spüren, dass sie gerade in diesem „Ich-bin-so-wie-ich-bin“ geliebt werden, gerade auch in ihrer eigenen Schwäche.
Dieser Beitrag gehört zur Serie von Beiträgen zum Thema “Theologie des Leibes” und stammt aus meinem Buch, “God, Sex & Soul”.
Foto: Pixabay (Stand 26.02.2015)