Der Kuss

Ich küsse das Bild eines Geliebten. Wer das belächelt, hat nie geliebt. Und doch. Es ist nicht dasselbe wie die reale Umarmung. Manche fragen sich, warum nicht Messe oder Anbetung einfach weiterhin vor dem Bildschirm möglich sein sollte. Viele haben gerade in der Coronazeit gemerkt, wieviel doch auch über den Livestream geht. Sogar die Anbetung. Ich denke da an eine Familie, die jeden Tag ihre „holy hour“ gemeinsam vor dem PC in der Anbetung hier im Zentrum JP2 verbracht hat. Das wäre ihnen in dieser Regelmäßigkeit und den kleinen Kindern nie „vor Ort“ möglich gewesen. Hat das einen Wert? War das einfach ein „Nichts“? Kann Gott auch hier wirken? Und die Antwort ist natürlich ein großes: JA! Gott ist größer als wir denken. Und doch.

Gott ist überall, ja. Aber er hat sich in Jesus Christus klein gemacht. Als Mensch hat er sich eingeschränkt, nur 3 Jahre in einem relativ kleinen geographischen Umkreis zu wirken. Aber er wollte uns nicht als Waisen zurücklassen. Daher schenkte er uns Anteil an seiner Liebesbeziehung mit dem Vater, den Hl. Geist. Wir sind Tempel des Hl. Geistes. Er lebt durch die Taufgnade in unserem Innersten und wir stehen in einer persönlichen Beziehung mit ihm, der uns, um eine Idee von Augustinus aufzugreifen, näher ist als wir uns selbst nahe sind…innerlicher als wir uns selbst innerlich sind.

Und doch. Er wollte uns nicht nur als Gott nahe sein, sondern auch als Mensch. Und nicht nur das, er wollte unsere Speise sein. Nicht kannibalistisch gedacht, sondern in dem Sinn, dass das „Höhere“ das „Niedrigere“ in sich aufnimmt und verwandelt. Wenn wir etwas essen, wird es zu einem Teil von uns, nicht andersherum. Aber wenn wir die Eucharistie empfangen, geschieht das Gegenteil, wir werden immer mehr verwandelt in ihn. In der Eucharistie ist er da, eben nicht nur als Gott, sondern real, wirklich als Mensch. Dieses Brot, dieser Wein, ist nicht mehr Brot, nicht mehr Wein. Es ist er selbst. Wir sehen ihn nicht, aber die Augen des Glaubens sagen etwas anderes. Diese „sakramentale“ (das sichtbare Zeichen des Brotes, das  durch die Macht des Geistes die Gegenwart des lebendigen Brotes, Jesus selbst, nicht symbolisiert sondern real vergegenwärtigt) Gegenwart ist von einer Daseinsdichte geprägt, die sogar realer ist als unsere eigene, die ja in der nächsten Sekunde schon wieder ins Vergangene hineinfällt. Er ist der „ich bin da“, der Auferstandene, der nicht mehr stirbt und uns ständig zuruft: „kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich werde euch Ruhe verschaffen“.

Der Bildschirm

Kann ich nach wie vor vor dem Bildschirm anbeten? Ja natürlich. Ist das wertvoll? Ja klar. Genauso wie es sehr wertvoll sein kann, wenn zwei Menschen miteinander skypen oder zoomen. Man kann da nicht sagen: „das ist nicht real“. Natürlich ist „digital“ auch real, denn man redet ja wirklich miteinander, man tauscht sich ja wirklich aus. Man sieht sich ja wirklich. Und dennoch. Die digitale Projektion meines Bildes bin ich nicht selbst. Es ist eben eine digitale Projektion von mir. Ist die wertvoll? Ja klar!, denn sie macht es möglich, dass wir miteinander wirklich kommunizieren. Wenn jemand das Bild, das ich von meinen Eltern in meinem Zimmer hier in Wien habe, zerstören würde, dann wäre das für mich ein Affront, es wäre so, als hätten sie meine Eltern selbst sehr beleidigt und verletzt. Denn das Bild steht für sie, erinnert mich an sie, lässt mich für sie beten und vor Gott für sie einstehen, erinnert mich an alldas, wofür ich ihnen danken will und dankbar bin. Und alles das verleiht dem Bild in dieser „stellvertretenden“ Rolle einen großen Wert. Aber es sind nicht meine Eltern. Die beiden würden sich nicht damit begnügen, wenn ich ihnen sagen würde: „Ich muss euch nicht mehr besuchen, weil ich habe ja ein wunderschönes Bild von euch in meinen Zimmer.“ Zwei Liebende, die eine Fernbeziehung führen, werden Skype und GoToMeeting und Zoom und Google Hangouts sehr dankbar nutzen, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Vielleicht küssen sie sogar den Bildschirm, aber gleichzeitig wird gerade auch dieser Akt eine Sehnsucht nach dieser anderen Art von Kuss, dieser anderen Art von Umarmung erwecken, die nur durch das wirkliche „Mund zu Mund“ möglich sein wird.

Wir sind keine Engel, sondern aus Fleisch und Blut. Diesen unseren Körper haben wir nicht, der sind wir. Dieser Körper ist uns nicht äußerlich, er ist der Selbstausdruck unseres Geistes. Ja, wir können uns geistig auch ganz nahe sein durch einem Bildschirm, der eine gewisse körperliche Vermittlung erlaubt. Aber es wird immer noch die Sehnsucht nach der Berührung sein, das wirklich in die Augen schauen, nicht nur in die Augen deiner digitalen Projektion.

Jesus hat sich räumlich begrenzt und in den Tabernakel eingekerkert als Gefangener seiner Leidenschaft für uns. Er wird uns diese seine Gegenwart nicht aufzwingen. Er ist eine Gentleman, der versucht, unser Herz zu erobern und unfassbar respektvoll mit unserer Freiheit umgeht. „Gott lässt sich finden von allen, die ihn mit ganzen Herzen suchen.“

Ich schreibe diese Zeilen, weil ich sehr hoffe, dass Corona in uns eine größere Sehnsucht nach seiner realen Präsenz und Gegenwart in der eucharistischen Gestalt von Brot und Wein erweckt hat. Ich hoffe sehr, dass Corona nicht dazu führt, dass wir unseren Glauben zu „vergeistigen“ und dieses Grundprinzip unseres christlichen Glaubens nicht vergessen: die Menschwerdung Gottes. Das Fleischwerden der 2. Person der Dreifaltigkeit. Das Einswerden mit uns in unserer Fleischlichkeit.

Die Anbetung

Jesus spuckt auf die Erde und macht einen Teig, den er auf die Augen des Blinden einreibt. Die Frau, die seit Jahrzehnten an Blutungen leidet, berührt sein Gewand und spürt die Kraft, die von dieser Berührung ausgeht und sie heilt. „Und siehe, eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt, trat von hinten heran und berührte den Saum seines Gewandes.“ (Mt 9,20). Jesus berührt den Leprakranken und lässt seine inneren und äußeren Wunden heilen: „Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! Im gleichen Augenblick wurde der Aussätzige rein.“ (Mt 8,3) Er berührt die Schwiegermutter des Petrus, um sie zu heilen: „Da berührte er ihre Hand und das Fieber wich von ihr, sie stand auf und diente ihm.“ (Mt 8,15). Durch Berührung heilt er den Blinden: „Darauf berührte er ihre Augen und sagte: Wie ihr geglaubt habt, so soll euch geschehen.“ (Mt 9,29) Durch Berührung lässt er die Taubstummen genesen: „Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel.“ (Mk 7,33) Durch Berührung lässt er Gestorbene von den Toten auferstehen: „Und er trat heran und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen und er sagte: Jüngling, ich sage dir: Steh auf!“ (Lk 7,14)

Natürlich hätte er das alles nur „von der Ferne“ machen können. Und ab und zu tut er es auch, wie bei der Heilung des Dieners des römischen Hauptmannes. Aber seine normale Vorgangsweise ist eine andere. Der Weg der Menschwerdung selbst ist ein anderer gewesen. Er hat sich nicht nur ein Bild von sich von uns Menschen machen lassen, er selbst ist einer von uns geworden, einer zum Angreifen, zum Berühren. In der Eucharistie kommt es zur wirklichen Berührung mit dem lebendigen Gott durch das Fleisch und Blut des fleischgewordenen Wortes: „Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank.“ (Joh 6,55) Indem wir ihn berühren, indem wir ein Fleisch mit ihm werden, um auch „ein Geist“ (1 Kor 6,17) mit ihm zu sein.

Daher hoffe ich sehr, dass du, dass ich gerade wegen dieser Krise neu lernen, zu ihm zu kommen, in seiner Gegenwart zu verweilen, ihn wirklich in seiner Hingabe am Kreuz und seiner Auferstehung in der Messe zu begleiten, ihn wirklich und nicht nur geistlich in der Eucharistie zu empfangen. Und wenn das nicht geht und auch als Ergänzung auch gerne am Bildschirm. Aber hoffentlich drängt uns die Bildschirmbegegnung noch mehr und nicht weniger zum „Kuss“, zum „Mund zu Mund“.  Anbetung ist „Adoratio“ = „ad-ora“ = „am Mund Gottes“, Gott haucht seinen Atem ein. Mund-zu-Mund-Beatmung geschieht durch reale Berührung. Johannes hat an der Brust Jesu geruht, nicht nur auf einem Bild von Jesus. Das Bild ist ok, Ort der Gnade. Die Ikone wird zum Vermittler des wahren Gottes. Wir wollen dessen Wert in keinster Weise irgendwie schmälern. Aber die Berührung, von der Johannes Kapitel 6 spricht, ist doch von einer anderen Größe. Das Bild ist ein Geschenk. Ein großes Geschenk. Er selbst noch ein viel größeres. Es ist das Kostbarste überhaupt. Hoffentlich lässt uns seine Unscheinbarkeit, sein sich so kleinmachen, sein sich so anrührbar und zugänglich machen nicht weniger schätzen, was er dort tut, sondern mehr.

Gottes Segen,

P. George

Foto: Pixabay