Im letzten Blogbeitrag wurde vor allem deutlich, warum der innere Blick wichtig in der Beziehung zwischen Menschen ist. Er ermöglicht es in die Tiefe zu gehen. Er durchbricht die Mauern von Oberflächlichkeit und gelangt an einen Ort, wo das Aussehen, Qualifikationen, Leistungen und selbst Charaktereigenschaften keine Rolle mehr spielen, weil es in diesem Moment um Mehr geht, um das wahre Innere des anderen Menschen, um sein wahres von Gott gegebenen „Sein“, was ihm sein „Warum“, seine Identität schenkt. Mit dem inneren Blick können wir also erahnen, wie Gott uns anschaut.
Dieser Beitrag thematisiert nun, wie man diesen Blick erlernen und wirklich in das Innere des anderen Menschen vordringen kann:
Dazu schauen wir uns das erste Buch der Bibel, Genesis an und blättern ganz zurück zum Anfang. Diesen Text lesen wir nun im Kontext des Anfangs eines weiteren Buches der Bibel, des Johannesevangeliums. Letzteres will ein Kommentar und eine Ergänzung des Genesistextes sein:
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“ (Gen. 1, 1-3)
„Im Anfang war das Wort (Logos). Und das Wort (Logos) war bei Gott und das Wort war Gott… Alles ist durch das Wort geworden.“ (Joh. 1, 1-3)
[Das griechische Wort „Logos“ bedeutet soviel wie „Vernunft“, „Verstand“, „Sinn“]
Der Schlüssel zum inneren Blick ist die Liebe
Der Gläubige ist davon überzeugt, dass „am Anfang“, zutiefst vergraben in jeder Wirklichkeit, tiefer als jeglicher genetische Code, nicht der Zufall und das Chaos, die „Wüste“ und das „Wirre“ steht, sondern göttliche Ordnung. Diese zeigt sich in Form von Vernunft, Logos, Sinnhaftigkeit, die aus Liebe schafft und deren „Entschlüsselung“ vernünftig ist, nicht weil der Mensch in diese Wirklichkeit Vernunft hineinprojiziert, sondern weil er diese Vernünftigkeit in der Welt selbst vorfindet und aus ihr herausliest.
Die Vernunft der Wirklichkeit zeigt sich allerdings nicht an der Oberfläche. Das Gravitationsgesetz steht nicht auf der Schale des fallenden Apfels. Man muss schon sein Gehirn benutzen, um dieses Gesetz zu entdecken. Man muss man mit seinem Verstand tiefer graben, um die Gegenwart von Rationalität in den Dingen zu entdecken. Die tiefste Bedeutung des Menschen steht ihm nicht auf der Stirn geschrieben. Das „Warum?“ oder „Wozu?“ seines Mannseins oder Frauseins steht nicht in großen Buchstaben auf seinen Geschlechtsorganen.
Die tiefste Wirklichkeit des Menschen ist nicht eine Zusammensetzung aus seinen chemischen und biologischen Bausteinen, die bestimmten Gesetzen folgen, sondern, das „Sein“ seiner Person, das ihn zur Wahrheit und zur Liebe befähigt. Weil er Person ist, besitzt er Würde. Er besitzt ein „Ich“, dass immer größer als alle physischen, geistigen und spirituellen Eigenschaften und Fähigkeiten sein wird. Aber um das zu entdecken und in seiner Tiefe zu erfassen, den Anderen in seiner ganzen Fülle als Mensch zu ergründen, braucht man hierzu sogar noch mehr als nur rationale Überlegungen.
Die Größe des Anderen, ihn in seiner Tiefe und Breite als Mensch zu erfassen, verlangt letztlich einen Blick voller Liebe. Warum? Weil die Liebe den Verstand nicht nur auf einen Teil des Anderen, sondern auf den Anderen selbst heftet. Weil es die Liebe ist, die schlicht und einfach vor allem darin besteht, zu sagen, dass der Andere als ganzer Mensch gut ist, und nicht nur der Teil von ihm, der einem etwas bringt. Die Liebe ist zuallererst eine Bejahung des Anderen: „Ja, DU bist gut. Es ist gut, dass DU da bist.“ Nur im Nachhinein wird man sich bewusst, dass dieses Gutsein des Anderen auch für das eigene Selbst gut sein kann. Aber Liebe setzt früher an, Liebe sieht den Anderen um seiner selbst willen als gut an, unabhängig davon, ob er etwas gibt oder nicht.
Der innere Blick ist kein unreifer Blick. Ein Mann, der zum Beispiel eine schöne Frau sieht, sieht natürlich ihre äußere Schönheit, sieht wie sie aussieht, wie sie sich bewegt, wie sie spricht, wie sie sich verhält. Er sieht aber auch ihre Begrenztheit, begegnet auch ihren Fehlern. Der innere Blick aber hilft ihm, nicht nur das zu sehen, erlaubt ihm nicht, sich in der oberflächlichen Betrachtung zu ergehen, entweder berauscht oder verletzt zu werden. Nein! Er hilft ihm, tiefer zu sehen, mehr zu sehen, an erster Stelle sie selbst zu sehen, natürlich auch, wie sie ausschaut, aber dieses ausschauen steht im Kontext einer größeren, einer tieferen Wirklichkeit – nämlich, die Wirklichkeit dieser Frau selbst, im Kontext dieses, „es ist gut, das du da bist – unabhängig davon wie du ausschaust, was für Fähigkeiten oder Eigenschaften du hast, was für Leistungen du erbringen magst.“ Aber das ist noch nicht alles.
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Der innere Blick ist kein rein spiritueller Akt, der das ausschauen, tun usw. des Anderen überdeckt oder vergisst oder einfach so tut, als gäbe es das alles nicht. Im Gegenteil. Der innere Blick führt dazu, gerade in all dem äußerlich Erscheinenden das Tiefere zu entdecken… Das hat sehr konkrete Auswirkungen, gerade auch für das Ausleben der Sexualität. Der innere Blick des Mannes entdeckt in der „nackten Frau“ ihre Berufung zur Zweisamkeit, ihr da sein, welches sich in der liebenden Hingabe erfüllt. Er entdeckt sie. Sein innerer Blick führt ihn weiter und tiefer, jenseits der Oberfläche. Sie ist für ihn weit mehr als eine Befriedigung seines sexuellen Triebes. Ihr Äußeres ist für ihn Träger einer tieferen Botschaft.
Dieses Äußere und alles, was dieser Körper beinhaltet, ist gerade das, was ihm ihr Person-sein vergegenwärtigt. Dieser Blick dringt zu ihr selbst durch, bleibt nicht auf einen Teil von ihr geheftet. Im Gegensatz zur Begierde, die immer nur auf den begehrten Teil fokussiert, sieht er durch den inneren Blick diesen Teilaspekt von ihr immer im Blick auf das Ganze. „Du selbst bist mir wichtig und auch wenn ich dankbar bin für das, was du mir schenkst, würde ich es niemals unabhängig von dir selbst wollen. Ich liebe dich nicht wegen deiner Geschenke oder wegen deiner Nähe oder wegen deiner Sexualität oder wegen deiner Zärtlichkeit oder wegen der Bestätigung, die du mir schenkst, sondern ich liebe dich als Person, die du mir das alles gibst.“
Sein Blick sieht aber auch noch mehr. Sein innerer Blick bezieht sich nicht nur auf die Ebene des Seins (darauf, wer sie unabhängig von ihrem Tun ist), sondern auch auf die Ebene des Tuns (sie ist nicht einfach da, statisch, sondern gibt sich ihm ja hin). Denn in ihrer „nackten“ (kapitel über die nacktheit) Hingabe erfasst er mehr als nur das Physische. Er begreift, dass sie sich ihm hier selbst öffnet, dass sie ihm Zugang zu ihrem verschlossenen Garten verschafft, dass sie sich für ihn völlig verwundbar macht, dass sie eigentlich gar nichts mehr schenken könnte, dass sie mit allen Karten spielt, völlig und bedingungslos sich seiner Verantwortung anvertraut.
Er begreift, dass diese Hingabe ihre freie Entscheidung ist. Sie muss es nicht tun. Sie ist nicht dazu gedrängt worden. Das will besagen: Der innere Blick erfasst immer mehr den Wert dessen, was sie jetzt tut, ihre innere Größe, die Weite ihres Herzens, die Freiheit ihres Geistes, die Tiefe ihrer Liebe. Dieses erfassen des Wertes ihrer Hingabe beflügelt seine eigene Freiheit, ermöglicht, dass seine eigene Hingabe an sie authentischer, tiefer, reifer sein kann.
Im Geschenk den Wert des Gebers erkennen
Umgekehrt entdeckt der innere Blick der Frau im „nackten Mann“ dasselbe: Seine Berufung zur Zweisamkeit, seine Berufung zur liebenden Hingabe. Sie entdeckt ihn. Ihr innerer Blick hilft ihr, tiefer vorzudringen als bis zur Oberfläche, mehr zu sehen als die Erfüllung ihrer eigenen Sehnsucht nach einer bleibenden Beziehung, nach Geborgenheit, nach Sicherheit. Auch sie fokussiert sich nicht auf das Geschenkte, sondern auf den Geber des Geschenks. Oder besser, im Geschenk entdeckt sie den Wert des Gebers. Sie bleibt nicht bei der Erfahrung seines Mannseins stehen. Ihr Blick entdeckt in seiner Hingabe die Bestätigung seiner Treue, seiner Wertschätzung, seiner Achtung.
Ihre und seine konkrete Körperlichkeit, ihr Frausein und sein Mann sein, wie sie ihnen jetzt in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung vorgestellt wird, führt beide dahin zu sagen: „Es ist gut, dass DU da bist.“ Der innere Blick beinhaltet demzufolge diese beiden Aspekte: Erstens, ein Erfassen vom Sinn des Körpers des Mannes und der Frau sowie der körperlichen Hingabe im ein-Fleisch-werden; Zweitens, eine Herzenshaltung in Bezug auf diesen Körper. Auf der einen Seite geht es um die Erfassung des Wertes des Anderen und auf der anderen Seite um ein Bejahen dieses Wertes. Das ist ja genau, was man Liebe nennt. Der innere Blick ist ein Blick der Liebe. „Um etwas zu lieben, musst du es kennen, aber um einen anderen Menschen tief zu kennen, musst du ihn lieben.“61
Der innere Blick führt nicht nur zur Entdeckung des Anderen, sondern sagt etwas über den Menschen selbst aus. „Wer immer eine Frau lüstern anschaut, hat schon Ehebruch mit ihr in seinem Herzen begangen“ (Mt. 5,28). Wenn dieser Mann diese Frau „so“ anschaut, zeigt er dadurch, was er in seinem Herzen hat. Das Anschauen und die Art und Weise dieses Anschauens ist zwar ein Vorgang des Körpers, deutet allerdings auf etwas Tieferes hin:
Die Herzenshaltung und so die Haltung des Menschen an sich. Umgekehrt betrachtet ist das Anschauen ein inneres Handeln, welches sich äußerlich an einer gewissen Art des Schauens zeigt. Der Mensch, der „so“ schaut, beginnt den Anderen nicht mehr als Geschenk, sondern als Objekt zu betrachten. Der Mensch, der „so“ schaut, bringt, wenigstens in diesem Augenblick des Schauens, eine Herzenshaltung zum Vorschein: Egoismus und Gier, nicht Liebe. Demgegenüber steht der innere Blick der Liebe, der die Herzenshaltung jenes Menschen zur Geltung bringt, der eben Anders schaut.
Der innere Blick verleiht innere Tiefe und Freiheit, weil dieser Mensch nicht in der Oberflächlichkeit aufgeht, sondern sich von ihm in Freiheit beschenken lassen kann. Er ähnelt sehr der Kontemplation: „Ein einfacher Blick auf die Wahrheit unter dem Einfluss der Liebe“. Bei der Kontemplation schmelzen bruchstückhafte Erkenntnisse zu einem größeren Ganzen zusammen. Der Blick gelangt bis zum Kern des betrachteten Gegenstandes. Man versucht, sich nicht auf einen Teil des Gegenstandes zu fixieren, der dann an sich gerissen wird. Vielmehr lässt der Betrachter den Gegenstand einfach stehen. Die Liebe heftet den Verstand auf den inneren Kern des Anderen, lässt ihn einfach sein, einfach stehen, so wie er ist.63
Dieses „Stehen-lassen“ und so zum eigentlichen des Anderen vordringen bewirkt die Liebe. Die Gier hingegen führt dazu, den Anderen eben nicht stehen zu lassen, sondern zu gebrauchen.
„Guten Tag. Ich hätte gerne einmal den inneren Blick“
Zusammenfassend können wir sagen, dass der „innere Blick“ dreierlei besagt:
- Das tiefste Verständnis des Anderen, ein Verständnis, das bis zum Inneren des Anderen vordringt, ist ohne einen gewissen „Blick“, der aus der Tiefe des eigenen Herzens kommt, nicht möglich. Ohne eine gewisse Herzenshaltung, einen „Blick der Liebe“ einem anderen Menschen gegenüber, wird dieser andere Mensch in seiner Tiefe nicht wirklich erfasst.
- Der Andere selbst begreift sich erst dann, wenn er mit diesem aus dem Herzen kommenden Blick angeschaut wird. Der innere Blick eines anderen Menschen hat die Fähigkeit zu inspirieren. Er holt das Beste aus einem Menschen heraus, zeigt ihm seine Größe und Würde. Er lässt den Menschen so wieder an sich glauben.
- Der „innere Blick“ sagt weiterhin etwas über die Person aus, die so schaut. Er bringt das Herz zum Vorschein, die intime Welt des so schauenden Menschen.
Dieser Beitrag gibt einige Ideen aus dem 8. Kapitel meines Buches „God, Sex & Soul“ ergänzt und überarbeitet wieder.
Titelfoto: WordSwag