Ich sitze vor einem weißen Blatt. Es gäbe so viel über das Hohelied zu sagen und gerade deshalb weiß ich nicht so recht, wo ich anfangen soll. Es ist das Lied der Lieder, was mich gerade wegen seiner tiefen Weisheit so berührt hat, doch wie findet man nun die richtigen Worte, die all das möglichst verständlich und einfach ausdrücken… Was ich nicht möchte sind hochkomplizierte Texte verfassen alla Kant, die man wirklich Satz für Satz studieren muss und auch dann nur mit Erklärung versteht. Das liegt mir nicht. Vielmehr liebe ich es  persönlich zu schreiben, Erlebnisse und Gedanken zu schildern, die mich bewegen, zum Nachdenken bringen und mir zeigen, dass es mehr geben muss, etwas Höheres, einen Gott.

Gerade mein heutiger Tag hat mir genau das wieder vor Augen geführt. Noch immer gehe ich in meinen Gedanken durch die Intensivstation des Wiener Krankenhauses und sehe all die Menschen, die dort liegen, sich urplötzlich an der Schwelle des Todes befinden. Manche von ihnen sind bereits verstorben und ich frage mich, ob es das wirklich gewesen sein kann? Ist es nun einfach aus? Ich spreche mit den verschiedensten Menschen und merke, dass sich die großen Fragen des Lebens vermehrt gerade in den Extremsituationen stellen, dann, wenn man ihnen nicht mehr leicht ausweichen kann. Gibt es sie nicht vielleicht doch, diese andere Wirklichkeit, die man nicht sieht aber trotzdem da ist?

Der Gedanke hat mich beschäftigt und führt mich nun wieder zurück zum Hohelied, das ebenfalls von dem spricht, was man direkt sieht, wie auch von dem, was auf den ersten Blick verborgen bleibt. Ich schlage das Hohelied auf, tauche erneut in seine Verse ein und erkenne sehr schnell, dass es sich hier um eine Liebe zwischen Mann und Frau handelt. Das ist richtig. Aber es handelt von mehr, denn es spricht nicht nur von der menschlichen Liebe, sondern zugleich auch von dem, was nicht direkt ersichtlich ist, und zwar von der göttlichen Liebe zu einem jeden von uns und genau das macht das Hohelied so besonders, so tief.

Diese zweifache Sichtweise spiegelt sich in der Auslegungsgeschichte des Hoheliedes wider.  Doch nicht immer werden beide Deutungsweisen zusammengelesen. Während manche das Hohelied nur wörtlich verstehen, d.h. in ihm allein die menschliche Liebe erkennen, gibt es wiederum andere, die das Hohelied nur allegorisch auslegen, d.h. hinter dem Wortlaut einen tieferen geistigen Sinn suchen und die Liebesbeziehung von Mann und Frau als Sinnbild für die Liebesbeziehung Gottes zum Menschen sehen. So liest beispielsweise die frühe christliche Tradition aus dem Hohelied die Beziehung Christi zu seiner Kirche heraus, oder die jüdische Tradition bis heute die Heilsgeschichte Jahwes mit seinem Volk.

Ich glaube, dass beide Auslegungsweisen ihre Berechtigung haben und denke an all die Liebespärchen, die mir so oft begegnen, sei es in der Straßenbahn oder im Freundeskreis. Immer wieder sehe ich sie, diese Schönheit der Liebe, all das, was sie so atemberaubend macht und genau darin erkenne ich auch Gott, der sich nirgendwo so sehr zeigt, wie in uns selbst, dann, wenn wir lieben- und zwar so, wie er uns liebt. Ich vertiefe mich wieder in die Bibel, blättere viele Seiten zurück ganz zum Anfang, zum Buch Genesis, wo es in Gen 1,27 heißt, dass Gott den Menschen als sein Abbild geschaffen hat. Wir sind Gott also ähnlich und weil Gott die Liebe ist, dazu berufen ihn, die Liebe, widerzuspiegeln. Und genau dies tun die beiden Liebenden im Hohelied. In ihnen zeigt sich die Liebe so, wie sie von Gott gedacht ist, so, wie sie wahrhaft erfüllend ist, so, wie sie wirklich zu seinem Abbild wird.

Es ist also wahr, dass beide Liebenden im Hohelied auf Gott verweisen als dessen Abbild sie ja geschaffen sind. Genauso wahr ist es aber auch, dass die göttliche Liebe, die sich in der allegorischen Deutung zeigt, zu einem tieferen Verständnis der menschlichen Liebe führen kann. Für das Grundverständnis des Hoheliedes ist es wichtig zu wissen, dass sich beide Auslegungsweisen im Hohelied wiederfinden lassen, was wir im Laufe der nächsten Blogs immer wieder sehen werden…

 

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