Das Bussi

 

Ich versuche alle anderen auf mich einstürmende Gedanken wegzuräumen. Ich schaue nach unten. Ich schließe die Augen. „Und wenn ich alle Erkenntnis hätte … hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“ Ich blicke kurz nach vorne. Dort steht der kleine Bub immer noch aufrecht in der Bank. Sein Gesicht ist dem rechten Ohr seiner Mutter gefährlich nahe. Er könnte jetzt am Ohr ziehen oder schreien, dass er genau jetzt unbedingt aufs Klo müsse oder ein Eis wolle. Er könnte natürlich auch seitwärts zum Hechtsprung ansetzen und seinem großen Bruder Kung-Fu-Panda-mäßig einen Überraschungshieb auf den Hintern oder – wenn der Bruder im vergeblichen Versuch, sich noch zu verteidigen, zu schnell umdrehen würde – in den Bauch versetzen. Ich sehe schon den geplatzten Blinddarm und den Notarzt. Gut, er hätte natürlich die weniger dramatischen Optionen, einfach seiner großen Schwester schnell das Buch zu entreißen oder vielleicht doch die Haube der Kleinen zu schnappen – warum bekommt sie jetzt überhaupt soviel Aufmerksamkeit? Früher war das alles viel besser! P. George! Konzentrieren, Fokus! „Die Liebe trägt das Böse nicht nach … sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem Stand. Die Liebe hört niemals auf!“ Aber der Bub hat schon wieder meine Aufmerksamkeit. Meine Befürchtungen werden zunichte gemacht. Für mich ist es etwas beschämend, dass mir angesichts des gerade Geschehenen überhaupt solche Szenarien durch den Kopf geschossen sind. Ich war baff. Mami erhielt ein Bussi. Das war´s, außer der begleitenden Geste der Mami, die einfach aussagte: Ich hab dich auch lieb. Nichts mehr. Kein Eis. Kein Notarzt. Kein Aufschrei.

 

Das Bussi und das Vertrauen

Das spielte sich am gestrigen Sonntag zwischen etwa 10.38 und 10.39 Uhr, kurz vor der Verkündigung des Evangeliums hier bei der Messe in unserer Kapelle im Zentrum Johannes Paul II ab. Und ich dachte mir: Was wäre, wenn die Mami das Bussi nicht angenommen hätte? Wie hätte sich der Bub gefühlt? Und ist nicht genau das die Erfahrung, von der das Evangelium am Sonntag berichtete: Jesus kommt in seine Heimatstadt, aber sie wollen ihn nicht. Wenn jemand mein Bussi nicht annimmt, den ich eh nicht kenne, ist das ja irgendwie egal. Aber von demjenigen, den ich am meisten liebe? Und wer, bitte schön, liebt dich mehr als dieser Gott, der dich so einzigartig geschaffen hat, der in jeder Sekunde an dich denkt und dich im Dasein hält und an dessen Liebe dich und mich eigentlich jeder Pulsschlag erinnern sollte. Und war nicht die Lektion von Weihnachten, dass Gott sich so klein macht, so wie dieser Bub am Sonntag in der Messe, und sich uns als Baby so wehrlos und bedürftig präsentiert – obwohl er doch der Herr des gesamten Universums ist – und uns ein Bussi nach dem anderen geben will, um unser Herz aufzuweichen, um es zu öffnen für ihn, den einzigen, der unseren Durst nach Liebe und Geborgenheit und Sinn erfüllen kann? Und will nicht gerade das Fest von der Darstellung des Herrn morgen, am 2. Februar, uns daran erinnern: „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht“ (Joh 3,19), aber dass Gott sich trotzdem weiterhin in der demütigen, wehrlosen, sich der Gefahr der Verletzung aussetzenden Haltung gegenüberstellt und dir und mir ein Bussi geben will, wenn wir es zulassen? Und warum, wenn nicht deswegen, weil „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“? (Joh 3,16) Und ist es nicht doch leider oft genug so, dass ich statt einem Bussi einen Kung-Fu-Panda-mäßigen Seitenhieb von ihm erwarte oder dass er mir ganz frech und respektlos weh tun möchte und ich vielleicht mich von ihm abwende, sodass er mir ja nicht zu nahe kommen darf? Dass ich ihn nicht wirklich an mich heranlasse, dass er meine eigenen Wunden, meine Sorgen berühre, dass er tief in mein Herz spreche? Lasse ich es wirklich zu, dass Gott ganz bei mir sein darf, einfach mich um meinetwillen lieben darf, ohne von mir gleich etwas zu wollen außer diesem Einen, dass ich ja zu seiner Liebe, zu seiner Barmherzigkeit sage?
Lasse dich von ihm küssen. Das wünsche ich uns allen.

Das war meine Einleitung zum unserem 15. tägigen Newsletter. Den kann man hier abonnieren.

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