„Die Wahrheit ist eine Begegnung“, sagte Papst Franziskus. Dieser Satz fiel mir ein, als ich über die am Sonntag beginnende Bischofssynode nachdachte. Das Thema ist die Familie. In der Synodenaula wird es heiß werden, die Diskussion wird kaum emotionslos verlaufen. Manche Wortmeldung wird sogar ziemlich sicher schockieren. „Fliegende Teller“ – um einen Begriff des Papstes zum Thema Familienleben in Philadelphia letzten Samstagabend zu verwenden – werden wir nicht sehen, aber vielleicht etwas anderes. Ich prophezeie, dass mancher Unheilsprophet spätestens nach dem zweiten Tag von einer Spaltung der Kirche sprechen wird, wenn nicht gleich von deren Untergang. Der Oberböse wird wahrscheinlich Papst Franziskus selbst sein, der das Kirchenschiff völlig aus dem Ruder laufen hat lassen und sich in Schweigen hüllt. Aber jetzt im Ernst: Ich glaube, dass diese Prognose gar nicht so unrealistisch ist. Wie aber soll man diese Situation einordnen?
Jetzt muss ich ein klein wenig weiter ausholen, aber ich hoffe, dass es am Ende klar ist, worum es geht. Das Schlüsselwort, um die auf die Kirche zukommenden Ereignisse verstehen zu können, heißt meines Erachtens „Unterscheidung“. Damit hat Papst Franziskus Antonio Spadaro SJ im Sommer 2013 geantwortet, als dieser ihn in einem Interview fragte, welche Bedeutung es hätte, dass zum ersten Mal in der Geschichte ein Jesuit Papst geworden sei – und welcher Punkt der jesuitischen Spiritualität ihm wohl am besten helfen würde, sein Amt zu leben. Sodass kein Zweifel bestünde, worum es bei der Unterscheidung ginge, fügte Franziskus gleich hinzu, die Unterscheidung sei ein „Kampfmittel“, um zwei Dinge zu tun: „Um den Herrn besser kennenzulernen und ihm in größere Nähe zu folgen.“ Danach präzisierte er mittels einer Maxime des Hl. Ignatius: „Non coerceri a maximo, sed contineri a minimo divinum est.“ (Nicht vom Größten eingeschränkt und im Kleinsten enthalten zu sein, das ist göttlich.“) Der Papst erklärt das so: „Diese Tugend des Großen und des Kleinen ist die Großmut, die uns aus der Stellung, in der wir uns befinden, immer den Horizont sehen lässt: tagtäglich die großen und die kleinen Dinge des Alltags mit einem großen „für Gott und für die anderen offenen Herzen“ zu erledigen. Das heißt, die kleinen Dinge wertzuschätzen innerhalb der großen Horizonte, jenen des Reiches Gottes.“ Teresa von Avila würde sagen: „Gott steckt zwischen den Pfannen und Töpfen.“
Ein Abschnitt aus seiner Enzyklika (ein längeres Schreiben, dessen Sinn es ist, in erster Stelle den Bischöfen aber letztlich allen Gläubigen, über ein bestimmtes Thema etwas zu sagen) „Laudato Si“ über die Umwelt kann uns vielleicht helfen, das noch besser zu begreifen. In der Nr. 106 spricht Franziskus davon, dass die Welt dort schief steht, wo die Wirklichkeit – egal ob ein anderer Mensch, die Ehefrau, die Familie, das Klima, die Beziehungen, die Mitarbeiter usw. – als ein formloses Gegenüber betrachtet wird, das der Manipulation des Menschen völlig zur Verfügung stehe. Eigentlich geht es aber darum, „zu empfangen, was die Wirklichkeit der Natur von sich anbietet, gleichsam die Hand reichend.“ Am Ende der Enzyklika erklärt er diese urchristliche kontemplative Haltung, welche nicht in der Manipulation der Dinge, im Selber-bestimmen-Wollen, sondern in einer Haltung des Empfangens, der radikalen Verfügbarkeit gegenüber dem, was Gott in den Dingen, den Menschen, den Umständen sagen will. Und das, gerade weil Gott sich in diesen Dingen offenbart, „nicht weil die begrenzten Dinge der Welt wirklich göttlich wären, sondern weil der Mystiker die innige Verbindung erfährt, die zwischen Gott und allen Wesen besteht, und so empfindet.“ (Nr. 234) Ich werde gar nicht richtig unterscheiden können, wenn diese Einstellung der Verfügbarkeit nicht gegeben ist.
Wenn die Grundhaltung der Verfügbarkeit vorhanden ist, kann man den nächsten Schritt der Unterscheidung gehen. Dieser besteht darin, sich der Wirklichkeit zu nähern, hinzuhören, was uns durch sie gesagt wird, aber, wie Papst Franziskus sagt, „immer in der Gegenwart des Herrn“, vor seinem Angesicht. Aber wie nähert man sich dieser Wirklichkeit, um dann unterscheiden zu können? Indem ich in meinem Zimmer irgendwelche pastoralen Pläne entwickle, indem man sich irgendwelche tolle Ideen ausdenkt, niederschreibt und an die Welt verschickt? Papst Franziskus erinnert: „Für den Heiligen Ignatius müssen die großen Prinzipien in den Umständen von Raum, Zeit und Personen verkörpert sein.“ Und weil dem so ist, kann Unterscheidung nur dadurch geschehen, „indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen.“ Das braucht aber Zeit, viel Zeit, vielleicht sogar ein ganzes Jahr von einem Bischofstreffen letztes Jahr bis hin zur Synode, die jetzt am Sonntag beginnt. Und dann wird erst mal ordentlich diskutiert, werden die verschiedenen Gesichtspunkte und Zeugnisse eingebracht. Aber das Ziel von Franziskus besteht nicht in der Diskussion selbst, sondern in der Unterscheidung dessen, was, um seine Wort zu nutzen, „der größeren Ehre Gottes“ dient, denn „der Stil der Gesellschaft Jesu ist nicht der Stil der Diskussion, sondern jener der Unterscheidung, die natürlich die Diskussion im Prozess voraussetzt.“ Es geht ihm um ein gemeinsames Ringen um die Wahrheit, die eben in der gemeinsamen Begegnung mit der Wirklichkeit geschieht, nicht im Kreisen um sich selbst oder um die eigenen Ideen. Gerade das ist Kirche.
Papst Franziskus hat keine Angst vor Diskussionen, vor der Darlegung von unterschiedlichen Meinungen. Die Gefahr sieht er eher andersherum. Vielleicht könnte ein ganz wichtiger Aspekt verloren gehen, weil jemand Angst hatte seinen Gesichtspunkt vorzubringen. Vor kurzem hörte ich zwei Zitate von Andy Stanley, die genau in diese Richtung gehen. Das erste: „Um großartige Entscheidungen zu treffen brauchst du großartige Information.“ Das zweite, „Wenn die Leute um dich herum dir nichts mehr sagen, was du nicht hören willst, dann wirst du bald lauter Leute um dich herum haben, die nichts zu sagen haben.“
Papst Franziskus ist einfach ungemein konsequent. Papst Franziskus zieht das durch, wovon er zutiefst überzeugt ist: Die Kirche braucht das, was Ignatius das „Kampfmittel“ der Unterscheidung nennt. Die Unterscheidung: dessen Ausgangsposition, die Verfügbarkeit, dessen Horizont und Ziel, das „Reich Gottes“ und alles was dem dient, dessen Mittel, die gemeinsame Konfrontation mit der Wirklichkeit in Ort, Zeit, Menschen, Umständen.
Die Wahrheit besteht in einer Begegnung. Kämpfen wir dafür. Gottes Segen!
Ach ja, noch etwas, sollte jemand in dieser Woche etwas mehr Zeit haben, vielleicht wäre es interessant, den ersten Teil des Interviews zwischen P. Antonio Spadaro SJ und Papst Franziskus zu lesen. Man kann es hier aufrufen.
Dieser Blogbeitrag ist die Einleitung für den österreichischen Regnum Christi Newsletter gewesen. Dieser Newsletter erscheint immer am 1. und 15. von jedem Monat. Man kann den Newsletter hier abonnieren. Der gesamte Newsletter vom 1. Oktober erscheint hier.
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