So richtig stark. Ich weiß nicht, wie ich die Erfahrung gestern anders beschreiben soll. Schwer zu vermitteln, was das mit einem macht. Piotr schläft vor einem Lüftungsschacht der U-Bahn beim Praterstern. Wir („wir“ waren in mehreren Dreiergruppen unterwegs) wollten ihn zuerst gar nicht aufwecken. Aber dann hat er hat sich soooo gefreut über den Schlafsack und die Semmeln und die Schokolade. Noch mehr aber darüber, dass jemand ihn wahrgenommen hat. Ihm gezeigt hat, dass er wichtig ist. Dass auch er ein Kind Gottes ist, unendlich wertvoll.
Tanja lag ein paar hundert Meter weiter, zusammengerollt auf einer Parkbank. Bei ihr war es nicht anders. Piotr hatte wenigstens ein Fetzen als Decke, Tanja hatte wirklich gar nichts. Mit einer Art Kopftuch versuchte sie vergeblich, ihrem Körper etwas Wärme zu schenken. Es war richtig kalt. Zuerst war sie sehr ängstlich und hat schrecklich gefroren. Ein Rätsel, wie sie überhaupt die gestrige Nacht überlebt hat. Ich war auf jeden Fall extrem dankbar, dass wir die von Marmot gesponserten Jacken und Schlafsäcke mithatten. Spitzenqualität für Extremtemperaturen als Spende für die Obdachlosenaktion… Ein paar Worte, ein Händedruck und Blickwechsel, schließlich ein Lächeln – mehr war gar nicht möglich. Dennoch war es eigentlich so viel mehr. Eine Erfahrung von etwas, das wieder schwer zu beschreiben ist. Eine Nähe, die das Herz packt. Von etwas, von jemandem?
Ein paar Minuten später. Vor uns steht ein junger Mann aus Ghana, dessen Namen wir nicht erfahren. Seine Mutter war gerade gestorben, seine letzte Verwandte. In unseren Armen bricht er zusammen und weint eine gefühlte halbe Stunde mehr oder weniger durch. Was für Augen. Und wieder dasselbe, wieder dieses Gefühl, dass hier so eine Größe, eine Präsenz, eine Gegenwart ist. Hier ist jemand ganz wertvoll und er steht unmittelbar vor mir, nicht hinter Fassaden versteckt. Die Fassaden sind schon längst umgefallen. Ja, der junge Mann, der mir gegenübersteht, ist mir jetzt unmittelbar gegenwärtig. In seiner Würde, in seiner Größe vor Gott. In seinem Geliebtsein von ihm. Aber mehr noch, nicht nur dieser Mensch, sondern der Mensch schlechthin, Jesus Christus, er selbst ist so viel unmittelbarer präsent als bei einem Menschen, der viele Masken trägt. Wenigstens war das mein Eindruck.
Eigentlich waren wir ja nur einige Stunden in mehreren Kleingruppen unterwegs und wurde selbst so reich beschenkt. Das ist es wahrscheinlich, was so schwer zu verstehen ist. Man will armen Menschen helfen und kommt viel reicher zurück als man weggegangen ist. Dieser Kontakt mit Jesus Christus, diese so viel stärker unmittelbar erlebbare Gegenwart des Herrn in den Armen macht etwas mit dem eigenen Herz. „Was ihr dem Geringsten von diesen getan habt, das habt ihr auch mir getan.“ Das war gestern sehr stark zu spüren.
Noch ein paar Stunden zuvor war ich in Köln gewesen. Dort hatte ich mit einigen anderen Delegierten Vorschläge für den Entwurf der Statuten der geplanten Föderation unserer geistigen Familie des Regnum Christi durchdiskutiert. Im Statut wird behauptet, dass das Engagement für die am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen eine von vier Bedingungen für eine fruchtbare pastorale Tätigkeit sei. Das hätte ich vor einigen Jahren gar nicht verstanden. Engagement für die Armen schön und gut, aber doch nicht als Bedingung für fruchtbringendes Engagement in anderen Bereichen? Aber es stimmt. Wenn wir wissen wollen, ob wir als Gemeinde oder Gemeinschaft authentisch den Weg mit dem Herrn gehen, dann müssen wir uns fragen: Wie gehe ich mit den Armen um? Welchen Platz haben sie in meinem Herz und in meinen Taten? Wie sieht es denn jetzt wirklich aus mit den sieben „Werken der Barmherzigkeit“?
Wir als Regnum Christi und wir hier im Zentrum Johannes Paul II. in Wien versuchen uns in allen möglichen Missionsprojekten einzubringen bzw. zu starten und das begeistert mich. Aber wirklich fruchtbar wird unser Engagement nur dann sein, wenn das Ganze gleichzeitig mit konkreter Hilfe und Liebe für den Herrn in Gestalt derjenigen, die es so nötig haben, einhergeht. Es braucht eben beides. Auch das soziale Engagement ist in Gefahr, einseitig zu werden, wenn man den Glauben an den Herrn außen vorlässt. Es ist dieselbe Leidenschaft für den Herrn, die uns sowohl zu den Menschen drängt, die den Herrn noch nicht kennen, als auch zu den Armen, die der größte Schatz der Kirche sind.
Am Sonntagnachmittag (den 26.) gehen wir wieder los, kommst du mit?
Gottes Segen! P. George LC
Morgen ist der erste „Welttag der Armen“. Hier das Schreiben dazu von Papst Franziskus.